Porträt
Pünktlich um 8:30 Uhr wählt sich Lehrer Andreas Stey in die Videokonferenz ein. Er sitzt im hellen Klassenzimmer der Hauptstufe 2, kurz H2. Er unterrichtet an der Mosaikschule Marburg, einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und einer Abteilung für körperliche und motorische Entwicklung. Hier lernen rund 80 Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in neun Klassen und auf vier Stufen, die sich meist nach dem Alter der Schülerinnen und Schüler richten.
Neben Andreas Stey sitzen drei Jugendliche. Sie tragen wie ihr Lehrer eine Maske, sitzen jeweils an einem eigenen Arbeitsplatz und schauen auf das große Whiteboard vor ihnen. Dort sehen sie ihre Klassenkameradinnen und -kameraden, die sich von zu Hause aus in die Videokonferenz eingewählt haben. Für Kinder, die besonders intensive Unterstützung benötigen, richtete die Mosaikschule Marburg vor Ort Arbeitsplätze ein. So können die Kinder, die in der Klasse sind, mit den Kindern, die daheim sind, gemeinsam lernen. Schnell tippt Andreas Stey noch etwas in die Tastatur, dann richtet er seinen Blick auf die Kamera: „Guten Morgen, liebe H2“, sagt er und eröffnet damit den Morgenkreis. Mit diesem Ritual beginnt jeder Schultag: Man begrüßt sich, erzählt, was man am Tag zuvor erlebt hat und wie es einem geht – ganz gleich ob im Präsenz- oder Distanzunterricht, vor oder während der Pandemie.
Der Unterricht an der Mosaikschule ist stark strukturiert und folgt festen Rhythmen und Ritualen, denn für die Lernenden ist ein verlässlicher und verbindlicher Tagesablauf wichtig. Das Beste für jedes Kind – nicht weniger will die Mosaikschule Marburg. „Es gibt Kinder, die auf einer niedrigen Entwicklungsstufe sind, und welche, die lesen können. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die sich an Abstands- und Hygieneregeln halten können, und Kinder, die das aufgrund ihrer Behinderung nicht können“, erklärt Schulleiterin Susanne Geller. Viele der Schülerinnen und Schüler sind im Distanzunterricht nur eingeschränkt oder gar nicht erreichbar. „Doch sie alle benötigen eine individuelle Förderung“, sagt Susanne Geller.
Dieses Spannungsfeld ist die Ausgangslage der Schule, die ihr Konzept zur individuellen Förderung während der Pandemie weiterentwickelt hat. Ihren Leitgedanken – „Wir gestalten Schule für alle Kinder so, dass jedes Kind auf seinem individuellen Niveau lernen kann“ – ergänzt sie um den Aspekt der Sicherheit: Alle sollen in Zeiten von Corona sicher lernen können. Besonderen Wert legt die Mosaikschule Marburg darauf, ihre Kinder und Jugendlichen zu einem möglichst selbstständigen und eigenverantwortlichen Lernen zu erziehen – sie möchte kein Schon-, sondern ein Lernraum sein. „Die Erziehung zur Selbstständigkeit ist der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe“, meint Susanne Geller.
Das Kollegium kann auf ein starkes Fundament bauen, zu dem auch der rhythmisierte Schulalltag zählt. Die Teilhabeassistentinnen und -assistenten arbeiten gleichberechtigt mit den Lehrkräften in etablierten und strukturell verankerten Unterrichtsteams zusammen. Die Schulentwicklung wird systematisch vorangetrieben, ein Schwerpunkt sind die digitalen Medien. Längst arbeitet das gesamte Kollegium mit digitalen Tools und nutzt zum Beispiel Tablets und interaktive Whiteboards im Unterricht. Auch die Schülerinnen und Schüler sind erfahren im Umgang mit diesen Medien. Schon vor der Pandemie hielten sie zum Beispiel über Filme miteinander Kontakt, wenn ein Kinder wegen eines Kur- oder Krankenhausaufenthalts länger fehlte. Die Schule erarbeitete zudem individuelle Unterrichtsformen, um die Kinder bestmöglich zu fördern. Das Spektrum reicht vom Videounterricht über das Verteilen von Arbeitsmaterial per E-Mail oder Post bis hin zu individuellen Lernpaketen, etwa mit taktilen oder sensorischen Aufgaben für Schülerinnen und Schülern mit schweren Behinderungen. Sie kombinierte digitalen und Präsenzunterricht mit Hausbesuchen, um den regelmäßigen Kontakt sicherzustellen.
„Wir haben mit dem gesamten Kollegium und mit unheimlich viel Freude und Kreativität Ideen entwickelt, wie wir die Schülerinnen und Schüler unterstützen können“, sagt Lehrerin Sabine Westphal. Dabei steht das fachliche Lernen erst an zweiter Stelle. Oberste Priorität hat immer die Frage, welche Form der Aufmerksamkeit und der Begleitung ein Kind unter Berücksichtigung der unterschiedlichen individuellen Ausgangslage und familiären Situation braucht und welcher Lernort dafür passend ist. Dabei nutzt die Schule den Handlungsspielraum bei der Umsetzung ministerieller Vorgaben voll aus und sucht gemeinsam mit den Eltern nach individuellen Lösungen für ihr Kind. Die Mosaikschule verstärkte in der Pandemie den Austausch mit den Eltern – sie versteht und lebt „Erziehungspartnerschaft“ als pädagogischen Auftrag. „An der Mosaikschule wollen wir als Gemeinschaft gegen die Vereinzelung arbeiten. Wir wollen es schaffen, zusammen die Pandemie zu meistern und zusammen zu arbeiten, zu leben, zu lachen und zu lernen“, bringt es Lehrerin Sabine Westphal auf den Punkt.