Individualisierter und interessengeleiteter Unterricht an der Havelmüller-Grundschule
An der inklusiven Havelmüller-Grundschule im Norden Berlins lernen die 300 Schüler:innen von der 1. bis zur 3. und von der 4. bis zur 6. Klasse gemeinsam. Im Interview erklärt Jurymitglied Professor Dirk Richter, wie die Schule ihren individualisierten und kindgerechten Unterricht umsetzt.
Herr Richter, Sie gehören zum Juryteam, das die Havelmüller-Grundschule in Berlin besucht hat. Was hat Sie mit Blick auf den Unterricht dieser Schule besonders beeindruckt?
Richter: Die Havelmüller-Grundschule ist in vier Lernhäusern organisiert, in denen rund 75 Kinder in vier jahrgangsübergreifenden Klassen lernen. Die Lernhäuser werden auch als Familienhäuser bezeichnet, denn für die Grundschule ist Schule nicht nur Lern-, sondern auch Lebensort. Die aktuelle Form der Umsetzung ist in höchstem Maße gelungen, obwohl das Konzept der Lernhäuser erst seit dem Schuljahr 2021/2022 besteht.
Was sind die Stärken der Unterrichtsgestaltung an dieser Schule?
Der Unterricht bietet eine klare Struktur, durch feste Rituale, Regeln und einen klaren Stundenplan. Gleichzeitig ermöglicht er ein hohes Maß an Individualisierung – vor allem mit Lernwegen und einem Lernrad in den Fächern Deutsch und Mathematik. Die Kinder können ihr Lerntempo selbst bestimmen und eigene inhaltliche Schwerpunkte setzen.
Wie setzt die Schule den interessengeleiteten Unterricht konkret um?
Projektunterricht ist im Stundenplan der Havelmüller-Grundschule fest verankert. In einem Zeitraum von sechs bis acht Wochen bearbeiten alle Schüler:innen eines Lernhauses ein gemeinsames Thema. Die Besonderheit des Projektunterrichts besteht darin, dass ein Thema in drei bis vier Unterthemen untergliedert ist und die Kinder selbst entscheiden können, mit welchem Unterthema sie sich beschäftigen wollen. Dadurch kommt es zu einer Durchmischung aller vier jahrgangsübergreifenden Klassen eines Lernhauses. Diese neu geschaffenen Lerngruppen ermöglichen ein interessenorientiertes Lernen in Gruppen von der Jahrgangsstufe 1 bis 6. Die Arbeit innerhalb eines Unterthemas umfasst etwa zwei Wochen – die Schüler:innen können anschließend in ein anderes Unterthema wechseln. Die Projektzeiten sind fachübergreifend ausgerichtet, sodass verschiedene Fächer in den Projektunterricht einzahlen. Verantwortlich für die Ausarbeitung der Unterrichtsinhalte des Projektunterrichts ist das Havelseminar. Im Havelseminar sind neben Mitgliedern der Schulleitung Vertreter:innen aller Lernhäuser beteiligt, wobei jedes Lernhaus durch ein Tandem von Erzieher:in und Lehrkraft repräsentiert ist. Für die inhaltliche Arbeit im Havelseminar können Lehrerstunden der beteiligten Personen eingesetzt werden. Dies ist eine weitere Besonderheit dieser Schule, da hier Unterrichtsentwicklung in Form von explizit angerechneter Arbeitszeit geleistet wird.
Die Havelmüller-Grundschule liegt in einem Stadtgebiet in herausfordernder Lage. Etwa die Hälfte der Kinder kommt aus Familien, die Sozialleistungen empfangen, jedes zehnte Kind weist einen sonderpädagogischen Förderbedarf auf. Wie geht die Schule damit um?
Die Havelmüller-Grundschule hat ein stimmiges Unterrichtskonzept für Schüler:innen mit unterschiedlichen und zum Teil schwachen Ausgangsvoraussetzungen entwickelt. Inklusion ist gelebte Praxis für alle Kinder, ganz gleich, mit welchen Voraussetzungen sie an der Schule starten. Der Unterricht wird durchweg vom Kind aus gedacht und an seine individuellen Bedürfnisse angepasst. In den meisten Klassen arbeiten jeweils multiprofessionelle Teams, die sich aus einer Lehrkraft und einer pädagogischen Fachkraft zusammensetzen. Lehrkräfte und Erzieher:innen arbeiten eng und auf Augenhöhe zusammen und führen den Unterricht in der Regel gemeinsam durch. Für die Kinder gibt es daher meist zwei Ansprechpartner:innen in fast jeder Unterrichtsstunde. Die Lehrkräfte fungieren im Unterricht als Lernbegleiter:innen und geben Impulse und auch klare Vorgaben für den weiteren Lernprozess. Neben dem fachlichen Lernen zielt der Unterricht insbesondere darauf ab, die Kinder zum selbstständigen Lernen zu befähigen, ihre sozialen Kompetenzen zu entwickeln und eine demokratische Schulkultur zu etablieren.
Zur Person
Prof. Dr. Dirk Richter ist Professor für Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung an der Universität Potsdam.