Porträt

"Ist das ein archimedischer oder ein platonischer Körper?" Anna Kaiser steht lächelnd vor 29 Sechstklässlern und hält einen schwarzweißen Fußball in die Höhe. "Ein archimedischer", antwortet die elfjährige Sophia*, ohne zu zögern. "Ganz genau!", bestätigt die Mathe-Referendarin und will nun wissen, wie sich ein archimedischer von einem platonischen Körper unterscheidet. Lennox meldet sich und erklärt, ohne lange nachzudenken, dass platonische Körper immer aus der gleichen Sorte von Vielecken bestehen und sich archimedische Körper aus unterschiedlichen Vielecken zusammensetzen. Der Fußball eben aus Fünfecken und aus Sechsecken.

Höhere Geometrie? Ist das der reguläre Matheunterricht einer sechsten Klasse? Ja und nein. Am Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium in Münster können sich Kinder freiwillig im Mathe-Erweiterungsprojekt ausprobieren. Mitmachen dürfen alle, die es sich zutrauen. "Uns ist wichtig, dass sich die Kinder selbst melden", erzählt Beate Dreseler, die das Projekt auf den Weg gebracht hat. Nach einem Drehtürmodell gehen die Schülerinnen und Schüler eines sechsten Jahrgangs eine Stunde in der Woche aus dem regulären Matheunterricht raus und treffen sich im Erweiterungsprojekt. Den Stoff, den sie verpassen, müssen sie selbständig nacharbeiten. "Dabei helfen ihnen Infopaten, die sie sich selbst aussuchen dürfen", sagt Dreseler.

Die Drehtür funktioniert nicht nur in Mathe. Das Gymnasium, das ganz zentral in der Münsteraner Altstadt liegt, hat auch gute Erfahrungen mit zusätzlichem Fremdsprachenunterricht gemacht. Sprachtalente können parallel zur zweiten gleich die dritte Fremdsprache erlernen. Latein und Französisch, Französisch und Spanisch oder Latein und Spanisch. Die Schule ermöglicht alle Kombinationen. Der Schüler oder die Schülerin besucht zwar zwei Kurse, ist aber nur jeweils in der Hälfte der Lernzeit vor Ort. Was verpasst wird, muss ebenfalls mit Infopaten nachgeholt werden. Was sich für Außenstehende nach Eliteförderung anhört, hat in erster Linie aber ein anderes Ziel. "Wir wollen, dass die Kinder zufriedener sind", sagt Dreseler. Im regulären Unterricht fingen die leistungsstarken Kinder an, sich zu langweilen.

"Es macht Spaß, immer schwierigere Aufgaben zu rechnen!", ist Linus’ Antwort auf die Frage, was am Extra-Matheunterricht so toll sei. "Außerdem ist es klasse, die Sachen auch mal vor Augen zu haben", sagt Simon. Stolz zeigt er auf einen selbstgebastelten Fußball. Denn Mathe bedeutet hier auch Praxis. Ausgestattet mit Zahnstochern und eingeweichten Erbsen, durften die Kinder heute selbst platonische und archimedische Körper zusammenstecken. Entstanden sind die unterschiedlichsten fragilen Gebilde. Geometrie zum – vorsichtigen – Anfassen.

Auch in der Oberstufe ist Begabungsförderung am "Annette" kein reiner Selbstzweck. Die Lernenden im Chinesisch-Kurs der zwölften Klasse erhoffen sich durch ihre exotischen Sprachkenntnisse bessere Chancen auf einem globalisierten Arbeitsmarkt. "Immer mehr Firmen suchen nach Leuten, die auch im Ausland arbeiten können", erzählt die 17-jährige Johanna. Und Max fügt hinzu: "Ich möchte gerne international arbeiten können, und da ist es bei Verhandlungen wichtig, auch etwas über andere Kulturen zu wissen." Umgangsformen kennen und sich im Alltag chinesischer Metropolen zurechtfinden – neben der Sprache sind das wichtige Ziele des Chinesischunterricht am "Annette". Heute hat der Sinologe Martin Kittlaus Stadtpläne von Beijing mitgebracht. "Die ringförmig angelegten Straßen umkreisen alle das Zentrum der Stadt. Dort befindet sich der Kaiserpalast. Für die Mitte gibt es im Chinesischen eine eigene Himmelsrichtung", erklärt Kittlaus, der die Weltsprache vor 15 Jahren an die Münsteraner Schule brachte. Alle Ortsnamen mit "zhong" orientierten sich an dieser Mittelachse. Und kenne man erst mal die anderen Himmelsrichtungen, gingen seine Schülerinnen und Schüler in der Hauptstadt des "Reichs der Mitte" nicht so schnell verloren. "Dōng, nán, x , běi", sprechen die Sprachtalente nach. Für Max kein Problem. Chinesisch ist seine fünfte Fremdsprache.

Und jene, die nicht zu den Überfliegern gehören? "Es ist uns wichtig, alle mitzunehmen!", betont Schulleiterin Anette Kettelhoit. "In unserem Leitbild spielt das schöne Wort ‚Herzensbildung‘ eine wesentliche Rolle. Das leben wir an unserer Schule." Jeder und jedem Einzelnen Wertschätzung entgegenzubringen heißt auch, alle individuell zu fördern. Für Siebt- bis Neuntklässler, die eher einen schwierigen Start am Gymnasium hatten, bietet die Schule ein Lerncoaching an. "Wir führen mit den Schülern Beratungsgespräche und versuchen, ihre Ressourcen neu zu wecken", erklärt Annika Köhler die Methode. Wichtig sei, erst mal herauszufinden, woran es eigentlich hakt, so die Englisch- und Spanischlehrerin. Hat das Kind Prüfungsangst, ist es schüchtern oder gibt es Probleme in der Familie? Sei man einmal im Gespräch, könnten dann kleine Ziele vereinbart werden, die dem Kind wieder Erfolgserlebnisse verschafften.

Mehr Luft bis zum Abi. Das würde gerade diesen Kindern helfen, wieder mehr Spaß am Lernen zu bekommen. In Zukunft werden die "Annette"-Schülerinnen und -Schüler diese Chance wieder bekommen. "Wir haben uns entschieden, zu G9 zurückzukehren", so Wolfhart Beck, Leiter der Steuerungsgruppe für die Schulentwicklung des Gymnasiums. Die Herausforderung wird sein, allen Schülerinnen und Schülern unter den neuen Vorzeichen gerecht zu werden. Die Schnelllerner haben durch das sogenannte begleitete Springen auch künftig die Chance, die Schule schon nach acht Jahren zu verlassen. "Um eine Klasse zu überspringen, bekommen die Kinder gezielten Förderunterricht, in dem der Stoff vorgezogen wird, damit keine Wissenslücken entstehen", erklärt Dreseler das Konzept.

Unter G9 wird auch eines der zentralen Ziele der künftigen Schulentwicklung leichter zu realisieren sein. Lehrer- und Schülerschaft wünschen sich noch mehr binnendifferenzierte Unterrichtsformen. Vorbild ist das Café Lingua. In der achten Jahrgangsstufe haben alle Kinder in ihrer zweiten Fremdsprache eine Selbstlernstunde. "Das Besondere ist, dass sich Französisch-, Spanisch- und Lateinschüler mischen. Sie entscheiden selbst, ob sie in der Stunde in ihrem Tempo alleine Vokabeln lernen oder sich im Partner- oder im Gruppenarbeitsraum mit anderen zusammentun", erklärt Janne Schlöder die Unterrichtsmethode.

Sind die Pflichtaufgaben erledigt, folgt die Kür. Im Wahlbereich dürfen die Sprachschüler eigene Projekte realisieren. "Dabei sind schon ganz tolle Sachen herausgekommen", erzählt Lateinlehrerin Schlöder stolz. Eine Gruppe aus Französisch- und Spanischlernenden hat gemeinsam ein Brettspiel entworfen, und ein Team hat einen Film in französischer und lateinischer Sprache gedreht, der mit deutschen Untertiteln versehen wurde. Letztlich sei aber nicht die Größe des Projekts entscheidend, betont Annika Köhler. Die Schülerinnen und Schüler sollen durch das selbstbestimmte Lernen spüren, dass es am Ende besser geworden ist. Die Projekte werden vor der siebten und achten Stufe in der Aula präsentiert. "Der Applaus ist motivierender als eine Note", ist Köhler überzeugt. Die gibt es nämlich nicht im Café Lingua.

Es klingelt. Die kleinen Mathe-Könner aus der sechsten Klasse packen schnell ihre Sachen zusammen und versuchen, ihre Kunstwerke heil nach Hause zu befördern. Für noch mehr Fragen ist keine Zeit. Sie wollen raus in die Pause. Eine Runde archimedische Körper kicken.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert