Porträt

Lara und Carla kichern. Ihre Wahrnehmung spielt ihnen Streiche. Was die beiden Mädchen in einem Moment noch gesehen haben, ist im nächsten Moment weg. Der schwarze Punkt auf dem Papierstreifen verschwindet einfach, dabei wissen sie ganz genau, dass er noch da ist. Lara und Carla experimentieren – sie erforschen, wie Sehnerv und Gehirn verknüpft sind, und haben gerade den „Blinden Fleck“ entdeckt. In Anne Roschers Biologieunterricht haben Lara und Clara Spaß und Erfolg. Früher saßen sie klassisch in Reihen, doch Anne Roscher hat die Tische umgestellt. Jetzt sitzen die Schülerinnen und Schüler in kleinen Gruppen zusammen. „Wir arbeiten mehr miteinander“, sagt Lara, und Carla fügt hinzu: „Seit Frau Roscher da ist, sind meine Bio-Noten besser. Deine doch auch, oder Lara?“ Lara nickt.

Anne Roscher ist Seiteneinsteigerin und unterrichtet an der Kurfürst-Moritz-Schule das Fach Biologie. Davor hatte sie in einem Labor gearbeitet. „Sie lebt für Biologie, und mit ihrer Leidenschaft steckt sie auch die Schülerinnen und Schüler an“, sagt Heiko Vogel. Er leitet die Kurfürst-Moritz-Schule in Boxdorf, einem Ortsteil der sächsischen Gemeinde Moritzburg. Das Zentrum der Landeshauptstadt Dresden liegt keine zehn Kilometer entfernt. Die Kurfürst-Moritz-Schule ist eine Oberschule für Kinder und Jugendliche von der fünften bis zur zehnten Klasse. Etwa 40 Lehrkräfte, davon acht Quereinsteigerinnen und -einsteiger, unterrichten rund 500 Schülerinnen und Schüler. „Seiteneinsteiger werden oft kritisch gesehen. Für die Kurfürst-Moritz-Schule sind sie eine Bereicherung“, meint Heiko Vogel.

Ihren Namen trägt die einzige weiterführende Schule der Gemeinde erst seit 2004, dabei reicht ihre Geschichte bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Vor über 180 Jahren wurde das erste Schulhaus in Boxdorf eingeweiht, einen Steinwurf vom heutigen Standort entfernt. 1882 zog die Schule in neue Räume um – heute der älteste Teil des Schulhauses. Die Zeit um 2004 war eine schwierige Phase für die Boxdorfer Schule. Die Anmeldezahlen waren drastisch gesunken, die Schließung der Schule drohte. Hinnehmen wollte das hier keiner, es musste sich etwas ändern. Ein neuer Name war da ein kleiner Schritt von vielen auf dem Weg zu einer Schule mit Zukunft. „Wir wollten mit dem neuen Namen ausdrücken, dass wir für alle Kinder da sind, die hier leben“, sagt Vogel. Deshalb sei eigentlich auch nur ein Name infrage gekommen: „Es musste der Moritz sein, denn Moritzburg ist spätestens seit der Gemeindefusion die Klammer für alle Dörfer hier“, so der Schulleiter. Namensgeber Moritz von Sachsen war Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches und ließ von 1542 bis 1546 die berühmte Moritzburg als sein Jagdschloss erbauen.

Schritt für Schritt setzte die Schule Veränderungen um. Sie rhythmisierte den Schultag neu, führte Blockunterricht mit 85-minütigen Einheiten ein und schärfte ihr musisches Profil. Der intensive Schulentwicklungsprozess trug Früchte, die Anmeldezahlen stabilisierten sich und die Kurfürst-Moritz-Schule bewarb sich für den Deutschen Schulpreis 2013. Sie schaffte es aus dem Stand unter die TOP 20-Schulen, für eine Auszeichnung fehlte noch ein Quäntchen. Heiko Vogel, der schon seit fast drei Jahrzehnten an der Kurfürst-Moritz-Schule arbeitet, kann sich noch gut an den ersten Jurybesuch vor sechs Jahren erinnern. Bernd Westermeyer, Gesamtleiter der Schule Schloss Salem und damals Jurymitglied, überreichte Heiko Vogel zum Abschied einen kleinen Anstecker mit dem Salem-Logo. „Er hat eigentlich gar nicht viel dazu gesagt“, erzählt Vogel. Westermeyer riet ihm, sich nicht nur Kurfürst-Moritz-Schule zu nennen, sondern das auch „durchzuziehen“ und den Namen zu leben. „Das hat mich sehr beschäftigt“, gibt Vogel zu. Inzwischen ist „der Moritz“ die Identitätsfigur der Schule. Ein Porträt des Kurfürsten hängt in Vogels Büro, der Anstecker von Bernd Westermeyer liegt zu Hause auf seinem Schreibtisch.

Zum Schuljahresende wird der Moritzpreis an eine Schülerin oder einen Schüler verliehen, die oder der Herausragendes für die Schulgemeinschaft geleistet hat. So wie zum Beispiel die engagierte Fionka, die in Eigeninitiative Schulungen für die Schülersprecherinnen und -sprecher organisiert. Oder wie Dominique, der mit Feuereifer bei vielen organisatorischen Aufgaben mit anpackt. Alle zwei Jahre organisiert der Elternrat den Moritzlauf. Bei dem Spendenlauf sammeln die Kinder und Jugendlichen Geld für ein gemeinnütziges Projekt, die Klassenkasse und die Schule. Sie dürfen mitentscheiden, wofür das Geld in der Schule investiert wird. Zuletzt haben sich die Schülerinnen und Schüler für ein stärkeres WLAN ausgesprochen, nun investiert die Kurfürst-Moritz-Schule in die notwendige Technik. „Schüler-WLAN statt Handyverbot“, kommentiert Heiko Vogel diese Entscheidung, die die Haltung der Schule gegenüber Smartphones und Tablets widerspiegelt. Die digitalen Medien sind selbstverständliches Lernmittel: Die Kinder und Jugendlichen recherchieren Informationen mithilfe des eigenen Handys oder nutzen sie, um mit den Whiteboards zu interagieren, die in vielen Unterrichtsräumen zur Ausstattung gehören.

Mit der Bewerbung für den Deutschen Schulpreis 2013 hat der Entwicklungsprozess der Kurfürst-Moritz-Schule weiter an Fahrt aufgenommen. Im selben Jahr wurde Heiko Vogel vom Stellvertreter zum Schulleiter und holte sich eine junge Kollegin an seine Seite. Luise Robock war da erst seit zwei Jahren Lehrerin, 2011 kam sie direkt nach dem Referendariat nach Boxdorf. Heiko Vogel hält sie für „eine begnadete Lehrerin“ und musste sie „ein bisschen überreden“. Sein Ziel war es, eine generationenübergreifende Schulleitung aufzustellen. „Etwas mehr Praxiserfahrung hätte nicht geschadet, trotzdem habe ich die Entscheidung noch keinen Tag bereut. Wir haben beide einfach die gleiche Vorstellung von guter Schule“, sagt Robock.

Heute könnte sich die Kurfürst-Moritz-Schule ihre Schülerinnen und Schüler eigentlich aussuchen, nachgefragt ist die Boxdorfer Oberschule längst. Dresdner Eltern würden sogar Bewerbungsmappen verschicken, damit ihre Kinder aufgenommen werden, erzählt Vogel. Doch die Schule bleibt ihrem Grundsatz treu: Jungen und Mädchen, die ihren Hauptwohnsitz in der Gemeinde Moritzburg haben, bekommen zuerst einen Platz. Viele Eltern entscheiden sich sogar gegen die Gymnasialempfehlung der Grundschule und melden ihre Kinder stattdessen in Boxdorf an. Die Schule heißt Lernende aller Bildungsziele willkommen. Hauptschulklassen gibt es allerdings nicht. Denn die Kurfürst-Moritz-Schule glaubt fest an den Lernerfolg aller Schülerinnen und Schüler. „Lehrkräfte sind Personen, die den Kindern und Jugendlichen zeigen, was sie alles erreichen können“, erklärt Vogel.

Der ausgezeichnete Ruf hängt eng mit der konsequenten musischen Profilierung der Schule zusammen. Gesang, Keyboard, Schlagzeug, Bass, Gitarre oder Saxofon – für eines der Instrumente müssen sich die Kinder in den Klassenstufen fünf oder sechs entscheiden. Sie musizieren in Bandklassen, für deren Konzept die Schule mit dem „Europäischen Schulmusikpreis“ ausgezeichnet wurde. In der siebten und achten Klasse belegen alle Schülerinnen und Schüler einen Profilkurs und können zwischen Tanz und Theater, Band, Sound, Mediengestaltung, Entertainment-Technik und Bühnentechnik wählen. Ältere Lernende der Klassenstufe neun und zehn entwickeln gemeinsam zwei große künstlerische Projekte. Viele musische Höhepunkte prägen das Schuljahr: Auftakt ist das Historienspiel. Kurz vor Weihnachten präsentieren die Schülerinnen und Schüler dann das jährliche Musical. Der Mittwoch vor Ostern steht traditionell im Zeichen von „Schule tanzt“, einem sachsenweiten Schul-Showtanz-Wettbewerb, bei dem jedes Jahr 100 Tänzerinnen und Tänzer der Kurfürst-Moritz-Schule auf der Bühne stehen. Am Schuljahresende treten die zahlreichen Bands der Schule beim dreitägigen Bandfestival „Rock im Foyer“ auf.

Dabei hat die Kurfürst-Moritz-Schule mit zwei ausgebildeten Musiklehrkräften nicht mehr Personal als andere Schulen, um ihr musisch-künstlerisches Profil umzusetzen. Eine enge Kooperation mit der Musikschule macht das Konzept möglich – und viele musisch interessierte Lehrkräfte, die gemeinsam die Idee unterstützen und mittragen. „Frau Roscher zum Beispiel“, sagt Luise Robock, die in der Lehrerband den Bass spielt, „ist auch fit im Tanzen.“