Porträt
Die Kinder der Klasse 2a sitzen im Stuhlkreis und schauen sehr ernst. „Er hat nicht mal auf unser Stoppzeichen reagiert", empört sich Kira, „er hat einfach weitergemacht." Dabei sollte Daniel ganz genau wissen, wann der Spaß aufhört. Beispielsweise, als der Erstklässler Kira und ihre Freundin Edona bei der Arbeit an einem Plakat störte und ihnen dann auch noch die Zunge rausstreckte. Die beiden Mädchen fühlten sich ohnmächtig gegenüber dem frechen Jungen, heute holen sie sich deshalb Rat bei ihrer Klasse. Was tun? „Holen wir ihn doch mal her", schlägt ein Junge vor.
Wer beschuldigt wird, soll reagieren können. An der Grundschule Süd in Landau dürfen Kinder ihre Mitschüler auch mal aus dem Unterricht in ihren Klassenrat holen, wenn es ein gewichtiges Problem gibt. Das Gremium tagt jede Woche. „Das Zwischenmenschliche geht vor", sagt Schulleiterin Siglinde Burg, „erst wenn solche Störungen behoben sind, haben die Kinder die innere Ruhe zum Lernen." Konflikte gemeinsam zu lösen, gehört an der kleinen Grundschule mit 204 Schülern zum Alltag. Die Schule ist Modellschule des Landes Rheinland-Pfalz für Partizipation und Demokratie. Konkret heißt das: „Wir lassen die Kinder so viel wie möglich selbst entscheiden", erklärt die Schulleiterin. Beispielsweise, wie der Schulhof aussehen soll, oder den Ablauf und die Beiträge für ein anstehendes Schulfest, aber auch, in welchem Tempo sie den Mathestoff lernen.
Erstklässler Daniel nimmt in der Mitte des Stuhlkreises der 2a Platz, Kira und Edona sitzen ihm gegenüber. „Wieso hast du uns die Zunge rausgestreckt?", fragt Kira. Daniel zuckt mit den Schultern. „Wolltest du die beiden ärgern?" fragt ein Junge aus der Klasse. „Ja, ärgern", sagt Daniel leise. „Hat dich wer anders geärgert und du wolltest deine Wut loswerden?", fragt Kira schon etwas milder. Daniel nickt. Ein Mitschüler schlägt vor: „Daniel sollte sich entschuldigen und dann ist es gut".
Die Stopp-Regel kennen schon die Kleinsten an der GS Süd. Sie ist eine der wichtigsten Regeln fürs Zusammenleben an der Schule. Die Schüler haben sie in langer Diskussion selbst festgelegt. Inzwischen hat die Schule ein klar strukturiertes demokratisches System. Die Klassen wählen je zwei Abgeordnete für das Schülerparlament, das die monatlichen Schulversammlungen vorbereitet. Hier stimmen alle Schülerinnen und Schüler über Anträge und Vorschläge ab. Die Verantwortung der Schüler geht an der GS Süd weit über das Streitschlichten hinaus, betont Burg: „Die Kinder machen Vorschläge und reden auch bei ihrem Lernalltag mit."
Die Viertklässlerinnen Lena und Isabell stehen an der Breitseite der Turnhalle, die ganze Schule sitzt zu ihren Füßen. Auch die Lehrerinnen nehmen zwischen den Schülerinnen und Schülern auf dem Hallenboden Platz, seit sie das Parlament dezidiert dazu aufgefordert hat. Die Kinder wollten auf Augenhöhe mit den Erwachsenen diskutieren. „Willkommen zur Schulversammlung", sagt Lena laut und zeigt auf die Tafel hinter sich: „Erster Tagesordnungspunkt: Die Rollerbahn." Die aufgemalte Rollerstraße auf dem Schulhof soll in Betrieb genommen werden. Aber welche Regeln gelten dafür? „Darf man da auch mit Rollschuhen fahren?", fragt eine Zweitklässlerin. Ein Viertklässler meldet sich: „Das ist vielleicht zu gefährlich." Viele Hände heben sich. Isabell ruft ein Kind nach dem anderen auf, jedes sagt seine Meinung. Muss man einen Helm tragen? Wie machen wir es mit der Aufsicht? Am Ende fasst Lena zusammen: „Ich würde vorschlagen, wir versuchen es erstmal nur mit Rollern. Alle müssen Helme tragen und die Roller selbst mitbringen. Wenn das funktioniert, können wir bei der nächsten Versammlung über das Rollschuhlaufen sprechen. Sind alle einverstanden?" Es gibt keinen Widerspruch.
Am Ende der Versammlung haben die Schüler auch das Lesecafé neu organisiert, das Projekt Planetenstraße der 3b im Schulhaus und das Lebensturm-Projekt dreier Viertklässler kennengelernt: Ein Holzgerüst auf dem Schulhof, das Insekten Lebensraum bietet. „Ihr könnt die Planetenstraße und den Lebensturm für die Neugierzeit nutzen", sagt Schulsprecherin Isabell zum Abschied. In der „Neugierzeit" dürfen die Schüler überall auf dem Schulgelände recherchieren. Nur das Oberthema ist vorgegeben. Sie können in der Leseecke im Flur schmökern, die Holzwürfel aus dem Geometrie-Regal nutzen, auf dem Schulhof, im Schulgarten oder im Internet recherchieren. In Vorträgen und auf Plakaten teilen sie ihren Mitschülern ihre Erkenntnisse mit. „Wir machen die Kinder neugierig", sagt Lehrerin Zsuzsanna Kern. Manchmal bedrängen sie Eltern: „Bringen Sie meinem Kind das Rechnen bei." Die Lehrerin sagt dann: „Ich kann den Kindern nichts beibringen, ich kann ihnen nur helfen, etwas zu lernen."
Am demokratischen Lernen arbeitet das Kollegium seit der Gründung der Schule vor neun Jahren. „Es ist ein ständiger Entwicklungsprozess", sagt Schulleiterin Burg. Anfangs waren die Eltern skeptisch: Demokratie ist ja schön und gut, aber sie braucht so viel Zeit. Die Kinder sollen doch was lernen! „Um erfolgreich zu lernen, muss man beteiligt sein, nur so lernt man sich einzuschätzen", erwidert Burg auf solche Einwände. Deshalb hängen die Lehrerinnen die Lernziele für jedes Schuljahr in den Klassenräumen aus. In Lernverträgen vereinbaren sie Ziele mit jedem einzelnen Schüler und dessen Eltern. Die Kinder können sich mit kleinen Tests selbst überprüfen und herausfinden, was sie noch üben müssen. Leistung sei nichts Negatives, findet Burg, es kommt auf die Perspektive an: „Mal sehen, was ich schon kann." Leistung muss keinen Druck erzeugen.
Nach der Schulversammlung eilt Schülersprecherin Isabell in ihr Klassenzimmer zu ihrer nächsten Aufgabe, sie ist Wahlleiterin. Es ist Pause. Im Zimmer der 4a läuft Rap-Musik, auf den Tischen stehen Brotdosen. Bei Regenwetter gibt es die „Drinnenpause". „Hört mal alle zu", ruft das neunjährige Mädchen mit den großen braunen Augen, „wir wählen jetzt Abgeordnete für unsere Klasse." Immer nach den Ferien werden die Klassensprecher neu gewählt. Die Kinder versammeln sich im Stuhlkreis. „Was muss ein Abgeordneter können?", fragt Isabell in die Runde. Er muss gut reden können, den Überblick behalten, unsere Anliegen vertreten, werfen die Kinder ein. „Wen schlagt ihr dafür vor?" Isabell steigt auf einen Stuhl und schreibt die Namen der Kandidaten an die Tafel. „Wir machen eine geheime Abstimmung, schließt alle die Augen." Sie verliest die Namen, die Schüler wählen per Handzeichen. Ihr Mitschüler Lucien bekommt die meisten Stimmen.
„Du hast viel Verantwortung, traust du dir das zu?", fragt ihn eine Mitschülerin. „Ich habe früher viel Quatsch gemacht, aber ich habe mich verändert", sagt der Wahlsieger, „Ich werde euch gut vertreten." Die Klassenvertreter müssen sich bewähren. „Niemand wird gewählt, nur damit er auch mal drankommt", sagt Schulleiterin Burg. Auch das ist eine Lektion in Demokratie, die schon in der Grundschule wichtig ist, findet Burg: „Je früher Kinder mit dem System vertraut gemacht werden, desto mehr Demokraten bringen wir hervor." Auch im Schulalltag spürt Burg die Vorteile der Mitverantwortung: Die Schüler fühlen sich wertgeschätzt, sie sind zufrieden.
Obwohl zwei soziale Brennpunkte im Einzugsgebiet der Schule liegen, gibt es kaum Konflikte. Die Mitbestimmung der Kinder hat allerdings auch Grenzen. Wenn die Lehrerinnen den Eindruck haben, dass eine Klasse mit einer Entscheidung überfordert ist, mischen sie sich vorsichtig ein. Meistens jedoch ermuntern sie die Schüler, selbst nach Lösungen zu suchen. „Fragt bei der Stadt nach", sagt Sieglinde Burg, wenn die Schulversammlung ein Baumhaus oder einen neuen Fußballplatz fordert. Die Kinder recherchieren, wer der richtige Ansprechpartner für ihr Anliegen ist. „Wann kriegen wir einen Boltzplatz?", haben Ferdinand aus der 2b und Jakob aus der 3b an den „sehr geehrten Herrn Hans-Dieter Schlimmer" geschrieben. Der OB beantwortet jede Anfrage direkt an die Schüler, die Antworten hängen im Schulhaus aus. Die Nachfrage hat sich gelohnt: Der Boltzplatz ist bald fertig.
Eva Wolfangel