Porträt

Im Büro von Schulleiterin Nicole Schäfer herrscht an diesem Dienstagmorgen keine fünf Minuten Ruhe. Immer wieder steckt jemand seinen Kopf zur Tür herein und fragt, ob er nach Berlin mitkommen könne, wenn am 14. Mai der Deutsche Schulpreis verliehen wird. Schließlich ist ihre Schule, die Franz-Leuninger-Schule in Mengerskirchen, nominiert. Mehr als 40 Leute stehen inzwischen auf der Liste für die Fahrt zur Preisverleihung: Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Referendarinnen, Eltern, Großeltern. Auch der Hausmeister und seine Frau wollen mitfahren; sogar der Bürgermeister der Gemeinde mit knapp 6.000 Einwohnern am Rand des Westerwalds. Also hat Nicole Schäfer einen Reisebus gemietet.

Für Schäfer und die Schule ist es ein Erfolg, dass so viele Mengerskirchener mit nach Berlin fahren wollen. Es zeigt, wie stark die Schule in der Kommune verankert ist. "Wir arbeiten seit Jahren daran, dass alle im Ort sich für die Schule verantwortlich fühlen", sagt sie. Seit zehn Jahren halten sie sich hier an ein Motto, das auf ein afrikanisches Sprichwort zurückgeht: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.

Früher seien vor allem sozial schwache Familien nach Mengerskirchen gezogen, sagt Schäfer. "Wir merkten, dass unsere Schule zwar ganz gut war, aber nicht gut genug für alle Kinder." Deshalb haben sie sich an anderen Schulen umgeschaut und Ideen mitgenommen. Seit 2005 hat die Schule ein Ganztagsangebot und ist täglich von 7 bis 16.30 Uhr geöffnet. Auch das Prinzip der Jahrgangsteams haben sie damals eingeführt. Die Klassenlehrer jedes Jahrgangs und ein Förderlehrer erarbeiten ein gemeinsames pädagogisches Konzept und bereiten den Unterricht zusammen vor.

Die Schule besteht aus drei Flachbauten, von denen einer erst 2013 gebaut worden ist. Die anderen beiden Gebäude wurden damals saniert. Aus großen Fenstern kann man in die hügelige Landschaft schauen, die Klassenzimmer sind hell, auf den Fluren hängen großformatige Fotografien, die Schülerinnen und Schüler zeigen. Für jeden der vier Jahrgänge wurde ein Arbeitsflur eingerichtet, von dem die Klassenzimmer abgehen. Auf "ihrem" Flur können die Kinder eines Jahrgangs zusammen lernen, Referate vorbereiten oder Experimente durchführen. Nachmittags können sie sich selbst Bücher, Stifte oder Geodreiecke nehmen, alles was sie für die Hausaufgaben brauchen.

Auch bei der Personalausstattung der Schule hat sich Nicole Schäfer an das afrikanische Sprichwort gehalten und die Arbeit auf viele Schultern verteilt. Mittlerweile gehören 20 Lehrkräfte zum Team, eine Erzieherin und eine Sozialpädagogin. Hinzu kommen eine Psychologin, eine Ergotherapeutin und eine Logopädin. In jeder Klasse gibt es zudem eine Assistenzkraft, die den Lehrerinnen und Lehrern über die gesamten vier Schuljahre hinweg in jeder Unterrichtsstunde zur Seite steht. Assistenten sind 450-Euro-Jobber aus der Region – Frauen, die wieder arbeiten wollen, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, Männer, wie ein ehemaliger Metzgermeister, die nach dem Berufsleben noch etwas tun wollen. Offiziell hat die Schule nur 14 Planstellen, das Geld für die zusätzlichen Stellen erwirtschaftet sie selbst. Einige werden aus dem Budget für Krankheitsvertretung bezahlt, das nicht ausgeschöpft wird, weil kaum jemand länger krank ist.

In der Klasse 3a sitzen die Kinder gerade im Kreis um ihre Lehrerin Cornelia Fritz. "Was nehmt ihr euch heute vor?", fragt sie zu Beginn der individuellen Lernzeit. "Ich will versuchen, in Mathe drei Kronen zu schaffen", sagt Jonathan*. "In Deutsch mache ich eine Krone, das kann ich noch nicht so gut." Und Sachkunde? Jonathan will später mit zwei Klassenkameraden das Experiment mit den Eisenspänen durchführen. Die Anzahl der Kronen bezeichnet den Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe. Nach zehn Minuten hat jedes Kind seine Pläne vorgestellt und es kann losgehen. Die folgende halbe Stunde arbeiten die Kinder leise und konzentriert.

Es gehört zum Konzept der Franz-Leuninger-Schule, dass die Kinder lernen, sich selbst einzuschätzen, ihre Stärken zu erkennen, aber auch ihre Schwächen. Um jedes Kind individuell zu fördern, bieten alle Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Unterricht Aufgaben in drei Kompetenzstufen an. "Wir wollten einfach nicht länger zusehen, wie es für bestimmte Kinder immer weiter bergab ging", sagt Nicole Schäfer. Bildungschancen würden in Deutschland noch immer viel zu sehr von der sozialen Herkunft der Kinder abhängen. An ihrer Schule bekommen auch jene eine Chance, die anderswo als unbeschulbar galten.

Nicole Schäfer ist 48, eine zierliche Frau mit langen, braunen Haaren. Wenn sie durch den Ort geht, zum Bäcker oder zum Friseur, wird sie ständig angesprochen. Alle hier kennen die Schulleiterin. Während andere Kollegen lieber etwas weiter weg leben, um nachmittags Abstand zur Schule zu haben, würde sie am liebsten im Schulhaus wohnen, so wie es früher auf dem Land üblich war. Schließlich möchte sie mitreden, wenn es um Entscheidungen der Kommune geht. Das klappt besser, wenn man bekannt und nah dran ist.

Immer mehr Eltern wollen ihre Kinder in Mengerskirchen einschulen. So ist es der Gemeinde im Westerwald gelungen, sich gegen den deutschlandweiten Trend zur Landflucht zu stemmen. Statt wegzuziehen, pendeln viele Eltern zur Arbeit, damit ihre Kinder an der hiesigen Grundschule lernen können. Andere, die Mengerskirchen einst verlassen haben, um irgendwo zu studieren, kehren zurück, wenn sie Kinder bekommen. In der Gemeinde, zu der fünf Ortsteile gehören, werden die Wohnungen langsam knapp. Bürgermeister Thomas Scholz (CDU) ist froh über diese Entwicklung und unterstützt die Schule. Wie viele Mengerskirchener, darunter Unternehmer und ein Pfarrer, ist auch er Mitglied im "Bildungsforum Mengerskirchen", das Nicole Schäfer und ihr Kollegium einst ins Leben gerufen haben. Dort wird über alles entschieden, was mit Kinderbetreuung und Bildung zu tun hat. Jüngst haben sie Geld für ein Jugendhaus bereitgestellt.

Nicole Schäfer ist nicht nur Schulleiterin, sondern auch Klassenlehrerin der 1a. "Ich unterrichte einfach gern", sagt sie. Vor Jahren war sie selbst Schülerin der Franz-Leuninger-Schule, später hat sie dort ihr Referendariat gemacht und kurz als Lehrerin gearbeitet, bevor sie 1999 die Leitung übernahm. Diese Kontinuität ist Teil des Erfolgsgeheimnisses der Schule. "Wir haben hier sehr unterschiedliche Schülerinnen und Schüler, Verlässlichkeit und Rituale sind deshalb äußerst wichtig", sagt sie.

Am Nachmittag kommt auch Henry aus der 4a noch zu Nicole Schäfer ins Schulleiterzimmer. Er will wissen, ob es stimmt, dass die Schule ihm Geld dazugeben würde für die Fahrt nach Berlin. Nicole Schäfer freut sich, dass Henry dabei sein möchte. "Wir kriegen das schon hin" sagt sie.

* alle Schülernamen von der Redaktion geändert