Porträt

Buntstifte kratzen über Papier. Sonst ist es still im Klassenzimmer der 5b. „Wir malen Szenen aus der Josefsgeschichte", erklärt Franziska, 11. Religionslehrerin Claudia Patzer wurde für einen Moment ins Lehrerzimmer gerufen – die mündlichen Abiturprüfungen stehen an. Eine fünfte Klasse, ganz ohne Aufsicht, geht das? Es geht.

Zumindest am Johann-Schöner-Gymnasium in Karlstadt am Main. Selbstständiges Arbeiten wird von der Eingangsklasse angeübt. Besichtigen lässt sich das auch im  „Lernatelier". Der Raum, eine Mischung aus Bibliothek, Computerraum und Leseecke, ist wie geschaffen für moderne Lernformen – fürs Arbeiten allein oder in der Gruppe. An diesem Vormittag recherchieren Siebtklässler zum Thema „Datenschutz im Internet". Einige blättern in Lexika, andere klicken sich durch Websites. „Man sollte im Internet nichts Privates über sich verraten", weiß Julia Gehrig. Die Zwölfjährige hat, wie die meisten in der Klasse, schon ein Profil beim Online-Netzwerk Schüler-VZ. „Ich will mit meinen Freundinnen chatten", sagt sie. Anders ihre Mitschülerin Kristin Opp: „Ich treffe meine Freundinnen lieber persönlich." Sie bekennt selbstbewusst: „Ich brauche kein Schüler-VZ." Mittlerweile hat sich eine kleine Traube um die beiden gebildet, jeder hat zu dieser Diskussion etwas beizutragen. Die Unterhaltung beenden? Dafür sieht Kurslehrer Jochen Diehl keinen Grund. „Das Lernatelier ist ein Ort der Kommunikation", sagt er. „Das Gespräch gehört ebenso zum Unterricht wie die Faktenrecherche."

Seit mehr als zehn Jahren entwickelt das Johann-Schöner-Gymnasium neue Konzepte für den Unterricht. Den Anfang machte eine kleine Gruppe Lehrer, die sich – als Reaktion auf das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA-Studie – für mehr interne Evaluationen eingesetzt hatte. Die Ergebnisse waren eindeutig: Die Schule stand gut da, Verbesserungsmöglichkeiten gab es dennoch. Mehr Methodenvielfalt statt Frontalunterricht, die Förderung praktischer Kompetenzen, und eine differenzierte Unterrichtsgestaltung wurden als Ziele formuliert. Zudem wurde eine Öffnung der Schule für externe Projekte und Wettbewerbe, sowie mehr Mitbestimmung durch Lehrer, Eltern und Schüler gefordert. Häuslers Vorgänger Rolf Kellermann hatte, was den letzten Punkt angeht, zunächst Bedenken. Sollte er zusehen, wie seine Position geschwächt wird? Er ließ sich auf das Wagnis ein. „Eine Schule muss sich entwickeln, wenn sie auch in Zukunft stark sein will", sagt Albert Häusler. „Dieser Idee sind wir bis heute verpflichtet." Ziel des Veränderungswillens: Talente gezielt zu fördern, Schwächen konsequent auszugleichen. Fach- und Methodenunterricht wechseln einander ab.

Dazu, so Häusler, braucht es eine Kombination aus klassischer Wissensvermittlung und modernem Methodentraining. Im Übungskurs von Chemielehrerin Sylvia Türk-Rupp prüfen rund 12 Schülerinnen und Schüler die Löslichkeit verschiedener Salze. „Wir haben auch schon einen Feuerlöscher mit Spülmittel gebaut", erzählt Anneke Rieß begeistert. Die 13-Jährige mag eigentlich den Kunstunterricht mehr. Aber seit die Klasse in Chemie alle 14 Tage die Bücher gegen Reagenzgläser tauscht, kann auch sie sich für das Fach erwärmen. Ihr Mitschüler Emanuel Schirm, 14, hat das erste Experiment abgeschlossen und wendet sich dem nächsten zu. Chemie sei sein „Lieblingsfach", sagt Emanuel. „Egal, ob sie ein gutes Verständnis für Naturwissenschaften haben oder nicht: Die Schüler brauchen eine praktische Vorstellung von den abstrakten Begriffen", sagt Sylvia Türk-Rupp.

„Unterricht sollte sich an Schüler anpassen, nicht umgekehrt", findet Albert Häusler – unter seiner Leitung hat das JSG ein Förderkonzept für die Mittelstufe entwickelt, von dem starke wie schwache Schüler gleichermaßen profitieren: Mit der Einführung von G8 waren den bayerischen Gymnasien zusätzliche Schulstunden für die Stufen 7 bis 10 gewährt worden. Während die meisten Schulen diese in Form von Nachhilfe umsetzten, können die Schüler am Johann-Schöner-Gymnasium wählen: Wer in einem Fach Lücken hat, kann diese in „Intensivierungsstunden" schließen. Starke Schüler können ihre Kenntnisse in fach- und teilweise sogar stufenübergreifenden „Plus-Kursen" vertiefen: Mathe-Asse grübeln im Kopfrechenkurs, Naturfreunde pflegen den Apothekergarten auf dem Schulgelände, Technik-Freaks bauen einen Roboter. Wer sich für soziale Berufe interessiert, kann im Projekt „Seitenwechsel" gemeinsam mit lernbehinderten Jungen und Mädchen am Leo-Weismantel-Förderzentrum kochen, Musik machen oder Theaterstücke erarbeiten. Für jede Aktivität erhalten die Schüler Zertifikate, die sie in ihrem „Schöner-Ordner" abheften. „Die Nachweise haben schon vielen bei Bewerbungen geholfen", weiß Schulleiter Häusler.

Als er 2005 das Angebot bekam, von Würzburg nach Karlstadt zu wechseln, zögerte er nicht. Schließlich war das Johann-Schöner-Gymnasium schon damals bis weit über das Maintal hinaus bekannt für herausragende Ergebnisse bei Schulvergleichstest, vor allem aber für das Engagement von Lehrern, Eltern und Schülern. Immer wieder kommen die Impulse für Veränderungen aus den Gremien, in denen auch Eltern und Schüler sitzen. „Unsere Schüler merken, dass wir sie ernst nehmen", sagt Albert Häusler.

Einander mit Respekt begegnen – das ist Prinzip am Johann-Schöner-Gymnasium. Alle drei Wochen, beispielsweise, setzen sich Mädchen und Jungen in der Gruppe zusammen, um etwaige Probleme zu besprechen – Hausaufgabenstress, Hänseleien, aber auch die nächste Exkursion, all diese Themen können in der „Zfu-Stunde" – die Abkürzung für „Zeit für uns" – besprochen werden. Wenn es die Klasse wünscht, muss der Lehrer auch mal den Raum verlassen. Der Schul-Sanitätsdienst oder das „Schöner Café", die von Schülern betrieben werden, zeigen ebenfalls: An dieser Schule geht es um Selbstständigkeit. Als einzige Schule im Landkreis hat das Johann-Schöner-Gymnasium Zuwächse bei den Aufnahmen, in den Jahrgangsstufentests belegt es regelmäßig Spitzenplätze.

Mit dem Etikett „Eliteschule" kann Albert Häusler dennoch nichts anfangen. Die Elternschaft bestehe bei weitem nicht nur aus Akademikern, betont der Schulleiter. „Unsere Schüler kommen aus allen Schichten". Zudem: Schüler, die nur das eigene Vorwärtskommen interessiert, entsprechen nicht dem pädagogischen Leitbild der Schule. Gern gesehen ist, wenn sich die Schüler auch sozial engagieren, beispielsweise für eine Partnerschule in Äthiopien. Ein Schüleraustausch mit einer indischen Schule und Projekte wie „Learning through the Arts", bei dem Künstler mit Kindern Unterrichtsstoffe spielerisch erarbeiten, verkörpern einen Bildungsansatz, der über Büffeln hinausgeht. Derzeit lassen sich zwölf Lehrer zu Mentoren ausbilden, um Schülern zu helfen, wenn sie unter Mobbing leiden oder ihnen schlicht die Lust am Lernen fehlt. „Natürlich wollen wir gute Ergebnisse", sagt Albert Häusler. Mindestens genauso wichtig ist ihm aber: „Wir lassen niemanden hängen."

Mathias Becker