Porträt
Ein riesiger Osterhase zieht einen Bollerwagen voller Süßigkeiten durch die menschenleeren Straßen im Hamburger Stadtteil Dulsberg. Ein großes gelbes Küken begleitet ihn und hüpft neben ihm her. Es ist Ostern 2020, mitten im ersten Lockdown. Der Osterhase reicht Schokolade über die Balkonbrüstungen, winkt den Familien zu, die am Fenster stehen, lacht und posiert für Selfies. Im Osterhasenkostüm steckt Björn Lengwenus. Er ist Schulleiter der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg.
Wenn seine Schülerinnen und Schüler ihn brauchen, ist Björn Lengwenus mit Herzblut und vollem Einsatz zur Stelle. Für ihn ist Bildung „so wahnsinnig viel mehr als nur Deutsch, Mathe, Englisch“. Die Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg ist eine Heimat. Eine Heimat für 1.600 Kinder und Jugendliche aus 86 Nationen, die mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Die Schule im sozial schwachen Hamburg-Dulsberg ist eine Schwerpunktschule der Inklusion und zugleich Hamburgs einzige „Eliteschule des Sports“ mit 300 Hochleistungsathletinnen und -athleten. „Hier kommen Schüler in die Schule, deren einziger verlässlicher Punkt am Tag die Schule und der Unterricht ist, die ihre Heimat manchmal weit weg von der wahren Heimat hier in dieser Schule haben“, sagt Björn Lengwenus und ergänzt: „Als der Lockdown kam, hatten wir Riesenangst davor, dass all die Strukturen wegbrechen.“ Die Haltung, die sein pädagogisches Handeln prägt – Schule ist Heimat –, wird von der gesamten Schule getragen und gelebt. Ihr oberstes Ziel war es, während der Schulschließungen und über das Lernen hinaus Heimat zu bleiben für alle Mitglieder der Schulgemeinschaft. Trotz der sozialen Isolation wollte sie ein Gemeinschaftsgefühl für die Kinder und Jugendlichen schaffen – ein Gedanke, der sich auch im Schulmotto „Be Part“ wiederfindet.
Schnell ist es dem engagierten und flexiblen Kollegium gelungen, den Unterricht online zu gestalten, sodass sich das Team darauf konzentrieren konnten, die gute Beziehungskultur zu stärken und auszubauen. Unterstützung bekamen es von den rund 100 Honorarkräften der Schule, die zum Beispiel in der Schulbegleitung oder in der Sprach- und Lernförderung tätig sind. Sie übernahmen im Lockdown neue Aufgaben. Ziel war es, täglich zu allen Schülerinnen und Schülern Kontakt zu haben. Ein Krisenteam besuchte Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen und machte mit ihnen „Unterricht am Fenster“. Honorarkräfte nahmen per Telefon Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern auf und lasen ihnen Geschichten vor. Ein Team aus 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern richtete eine Poststelle in der Schule ein, verpackte differenzierte Arbeitsmaterialien und lieferte mit dem Bollerwagen im Stadtteil sechs Wochen lang täglich rund 200 bis 600 Lernpakete für Kinder aus, deren Elternhaus für das Homeschooling nicht ausreichend technisch ausgestattet war. Auch das kostenfreie Schulessen hatte das Post-Team „to go“ dabei, um es bei Bedarf zu verteilen.
Herzstück der Beziehungsarbeit in den vergangenen Monaten war die YouTube-Show „Dulsberg Late Night“. Björn Lengwenus funktionierte kurzerhand die Turnhalle um und richtete gemeinsam mit seinem Team ein Studio ein. Von hier aus produzierten sie täglich eine Sendung – mit dem Schulleiter als Showmaster. „Wenn die Kinder nicht zu uns kommen können, kommen wir eben zu ihnen“, erklärt Lengwenus. Die Stars der Sendung waren die Schülerinnen und Schüler selbst: Sie sendeten Videobotschaften, nahmen an Challenges teil oder berichteten aus ihrem Alltag. So möchte die Schule ihr Motto verstanden wissen: „Be Part“ ist mehr als eine Haltung. Die Kinder und Jugendlichen sollen nicht nur die Chance haben, an etwas teilzunehmen – sie sollen wirklich Teil der Schule sein und sie aktiv mitgestalten.
Das gilt für alle Mitglieder der Schulgemeinschaft. Die Grund- und Stadtteilschule setzt auf eine hochwertige Beziehungsgestaltung auf allen Ebenen und führte dies in der Pandemie fort. Das zahlt sich aus: Das Kollegium bildete im Lockdown ein starkes Team. Fundament dafür waren das wertschätzende und achtsame Miteinander sowie bereits zuvor etablierte Strukturen wie die „Achtsamkeitspaten“, eine „Afterwork-Kultur“ oder die „Unfug-AG“. Auch die Elternbeteiligung ist seit dem Lockdown deutlich gestiegen. Erstmals seit vier Jahren konnten alle Elternratsplätze besetzt werden. In der Corona-Zeit öffnete sich die Schule noch stärker für die Nachbarschaft und konnte so ihre Bindung zum Stadtteil vertiefen.
Nun arbeitet die Schule daran, die neuen Impulse der vergangenen Monate aufzunehmen. So hat Björn Lengwenus längst den Staffelstab für die „Dulsberg Late Night“ an die Schülerinnen und Schüler weitergegeben, die jetzt selbst Sendungen produzieren. Für die Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg war die Pandemie mehr Chance als Krise: „Dieses Jahr hatte ja auch viele gute und coole Momente. Die Schule hat gelebt“, sagt Björn Lengwenus.