Porträt

Wenn Volker Stender-Mengel über seine Schule spricht, dann sieht man das Leuchten in seinen Augen: die Kinder und Jugendlichen, die hier lernen, das Kollegium, das täglich sein Bestes gibt, und all die vielen anderen Menschen machen die Deutsche Schule „Mariscal Braun“ in La Paz zu dem, was sie seiner Meinung nach ist: die schönste Schule Südamerikas. Volker Stender-Mengel ist seit fünf Jahren Leiter der Deutschen Schule in der Verwaltungshauptstadt von Bolivien. Doch sein Herz hat er hier schon vor fast 30 Jahren verloren. 1990 kommt er als junger Lehrer nach La Paz, direkt nach seinem Zweiten Staatsexamen. Zweieinhalb Jahre bleibt er, kehrt dann nach Deutschland zurück und arbeitet viele Jahre als Lehrer und Schulleiter in Hessen. Zwischenzeitlich sammelt er gemeinsam mit seiner Frau weitere Auslandserfahrungen in Portugal – und hat dabei die Zeit in Bolivien nie vergessen. „Es war immer ein Wunschtraum von uns, eines Tages hierhin zurückzukehren“, sagt der 60-Jährige. Als er dann entdeckt, dass die Position des Schulleiters in La Paz ausgeschrieben ist, sei das „wohl ein Wink des Schicksals“ gewesen.

Das Colegio Alemán „Mariscal Braun“, wie die Deutsche Schule in der Amtssprache Boliviens heißt, hat mit der Eichendorffschule, die Volker Stender-Mengel davor leitete, nur wenig gemein. An der Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe im hessischen Kelkheim lernen derzeit 1.200 Schülerinnen und Schüler – in La Paz sind es mit 1.100 Kindern und Jugendlichen nur etwas weniger. Doch anders als in Kelkheim beginnt hier das Angebot bereits mit dem Kindergarten für Jungen und Mädchen von dreieinhalb bis sechs Jahren.

Auf dem zwei Hektar großen grünen Campus in La Paz‘ größtem Wohnviertel, der Zona Sur, befinden sich außerdem eine Grundschule, eine Sekundarschule und eine Berufsschule. Schülerinnen und Schüler, die den deutschsprachigen Zweig der Schule besuchen, können nach zwölf Jahren das Abitur ablegen. Für die Schülerschaft des bolivianischen spanischsprachigen Zweigs bietet das Colegio Alemán das Bachillerato an, das spanische Äquivalent zum Abitur. Die Berufsschule bildet seit 1992 junge Menschen zu Industriekaufleuten und Kaufleuten im Groß- und Außenhandel aus. Das Besondere an der dualen Ausbildung: Sie ist dreisprachig.

Die Deutsche Schule in La Paz hat eine lange Tradition. 1923 – vor bald 100 Jahren – wurde sie als Realschule gegründet, und schon damals war sie für Kinder beider Nationalitäten gedacht. Heute sind rund 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler bolivianischer Herkunft. Benannt ist das Colegio Alemán nach einem Mann, der die deutsche und bolivianische Nation verband: Otto Philipp Braun, 1798 in Kassel geboren und Gefährte von Boliviens Nationalheld Simón Bolívar. Die Begegnung zwischen den beiden Kulturen ist nicht nur im Namen, sondern auch im Leitbild der Schule fest verankert. Gleich der erste Grundsatz spiegelt das bikulturelle Verständnis: „Die Deutsche Schule La Paz ist eine deutsch-bolivianische Schule, in der sich Menschen, Sprachen und Werte unterschiedlicher Kulturen gleichberechtigt begegnen. Sie fördert die Begegnung sowie den Austausch und pflegt in Weltoffenheit deutsche Sprache und Kultur.“ „Viviendo el encuentro“ heißt deshalb das Motto der Schule: „Begegnung leben“.

Auch Volker Stender-Mengel ist ein Mann der Begegnungen. Sein Arbeitstag beginnt morgens spätestens um 7:30 Uhr an der Schulpforte. „Ich nehme mir dann 20 Minuten Zeit, die Schülerinnen und Schüler persönlich zu begrüßen. Dabei ergibt sich manchmal auch ein kurzes Gespräch mit einzelnen Eltern“, sagt der Schulleiter und fügt hinzu: „Das Begrüßen der Kinder und Jugendlichen ist meine tägliche Freude. Dann spürt man, wofür man das alles macht.“ Außerdem versucht er, möglichst viele Pausen im Lehrerzimmer zu verbringen. „Ich warte nicht darauf, bis die Lehrkräfte zu mir kommen. Ich gehe lieber regelmäßig auf sie zu und suche den Austausch“, erklärt er. Für fünf Stunden pro Woche ist Volker Stender-Mengel selbst Lehrer, im Moment unterrichtet er in einer zehnten Klasse Deutsch. Zu seinem Arbeitsalltag gehören zudem Unterrichtshospitationen und viele, oft regelmäßig stattfindende Besprechungen. Denn kein Ziel könne er ohne sein Team erreichen, darauf legt er ausdrücklich Wert. Die Schulgemeinschaft arbeitet daran, die Deutsche Schule La Paz kontinuierlich besser zu machen.

Davon zeugen zum Beispiel die „KTs“. „KT“ ist die interne Abkürzung für „Kooperationsteam“. Das sind kleine Gruppen von meist vier Lehrerinnen und Lehrern, die sich für ein Jahr eines Themas annehmen, das zum Schulprogramm passt. „Ein Beispiel: Unser Ziel ist es, die Binnendifferenzierung weiterzuentwickeln. Dafür brauchen wir auch entsprechende Unterrichtsmaterialien. Ein KT kümmert sich zurzeit gezielt darum, passende Materialien zu konzipieren“, erklärt Volker Stender-Mengel. Auch wenn Volker Stender-Mengel Teamarbeit, Austausch und Kooperationen fördert, muss er einen Großteil seines Arbeitstages am Schreibtisch verbringen. „Ich habe viel bürokratische Arbeit, die meist direkt zurück in die Schule fließt. Wir sind keinem Schulamt verpflichtet“, erzählt er. Im Moment kümmere er sich zum Beispiel um einen FAQ – Antworten auf häufig gestellte Fragen – für die Schulwebsite. Das sei Schulentwicklung im weitesten Sinne. Gleich morgens erledigt er seine Korrespondenz, schreibt E-Mails und „telefoniert mit Deutschland“. Das sei die beste Zeit des Tages dafür. Denn wenn er sich um 8 Uhr an seinen Schreibtisch setzt, dann ist es in Deutschland schon 14 Uhr.

Insbesondere die Suche nach guten deutschsprachigen Lehrkräften nimmt viel Raum ein – der Lehrermangel in Deutschland ist auch in La Paz zu spüren. Mehr als 150 Anfragen an geeignete Kandidatinnen und Kandidaten gab es allein im vergangenen Jahr, in der Hoffnung, dass sich wenigstens eine Handvoll von ihnen für La Paz entscheidet. Die Bewerbungsgespräche führt Volker Stender-Mengel meist über Skype und nimmt sich hierfür viel Zeit. „Ich suche Lehrkräfte, die gern zu uns kommen. Ich möchte niemanden überreden.“ Von den 84 Lehrerinnen und Lehrern, die an der Deutschen Schule unterrichten, sind nur 25 aus Deutschland. Insgesamt versteht oder spricht fast die Hälfte des Kollegiums Deutsch. Wenn es nach Volker Stender-Mengel geht, könnten es ruhig noch mehr sein. Schließlich hat es sich die Schule zur Aufgabe gemacht, die deutsche Sprache und Kultur zu pflegen.

Doch trotz der herausfordernden Personalsituation gelingt es dem Colegio Alemán, das deutschsprachige Fundament der Schule kontinuierlich zu erweitern. Ab 2020 soll der deutsche Abiturzweig zweizügig werden. Und seit mehr als fünf Jahren setzt die Schule erfolgreich ihr Immersionskonzept um. Immersion bedeutet „eintauchen“ oder auch „Sprachbad“ und gilt als die beste Methode, eine Sprache zu lernen. Die Schule schafft dafür ein deutschsprachiges Umfeld – bis auf Sport und Spanisch findet der Unterricht in allen Fächern auf Deutsch statt.

In einem Jahr läuft Volker Stender-Mengels Vertrag als Schulleiter in La Paz aus. Er hat dann die Option, um zwei Jahre zu verlängern. Die Entscheidung hat er längst getroffen. Schließlich will er noch ein großes Projekt mit auf den Weg bringen. Für die Kinder, die jetzt mit der Immersionsmethode intensiv Deutsch lernen, soll es auch in der Sekundarstufe ein attraktives Angebot geben. Volker Stender-Mengel träumt davon, einen Deutsch- und einen Wissenschaftszweig aufzubauen, bislang gibt es solche Profile nicht. Und außerdem möchte er das Alumni-Netzwerk zum Vorteil der Schülerinnen und Schüler mehr pflegen. „Sie sollen es wissen, wenn es in Argentinien einen berühmten Arzt gibt, der hier zur Schule gegangen ist und bei dem sie ein Praktikum machen können“, erklärt Stender-Mengel. Die Absolventinnen und Absolventen sind über die ganze Welt verteilt. Nicht wenige von ihnen arbeiten später selbst an der Schule. „Eine meiner Schülerinnen von 1990 leitet heute unsere Verwaltung“, so Stender-Mengel. Die emotionale Verbundenheit ist hoch, auch 50 Jahre nach ihrem Schulabschluss nennen die Ehemaligen das Colegio Alemán „mi colegio”: meine Schule.