Porträt
Als erstes müssen sie einen Fluss überqueren: Vier Jungs stehen dicht gedrängt auf einem Holzkasten, wie auf einem Floß – mitten in der Turnhalle. Franziska klettert zu ihnen hinauf. Julia und Artur stehen auf einer kleinen Filzmatte, die hinter dem Kasten auf dem Boden liegt. Der kräftige 17-Jährige zieht eine schwere blaue Turnmatte hoch. „Los Franzi", ruft er dem braunhaarigen Mädchen mit dem goldenen Stirnband auf dem Kasten zu, „die müsst ihr nach vorn legen." Auch die vier Jungs packen mit an. Sie zerren die schwere Gummimatte am Kasten vorbei. Die Matte rutscht ab, ein Junge tappt mit einem Fuß auf den Boden. „Ey, pass doch auf, du bist im Fluss", herrscht Franzi ihn an. Sofort ziehen ihn die anderen wieder hoch. Die blaue Matte klatscht auf den Boden. „So, jetzt alle da drauf", dirigiert Artur. Sie springen auf die Matte. Dann wuchten sie den Kasten vor die Turnmatte.
Nachdem sie den Ablauf ein paar Mal wiederholt haben, erreichen sie das Ufer – die Bank auf der anderen Seite der Turnhalle. Geschafft! Die erste Aufgabe im „Sozialkompetenz-Parcours" haben sie bestanden. Die Schüler kommen aus Bayern, Baden-Württemberg und Hessen; sie gehen zur Grundschule, auf die Realschule oder das Gymnasium. Sie haben Asthma oder Neurodermitis, sind gegen Nüsse, Eier oder Pollen allergisch. Sie sind gekommen, um sich 1200 Meter hoch in den Bergen in der Alpenklinik Santa Maria in Oberjoch im Allgäu behandeln zu lassen. Zwischen der Asthma-Schulung, den Untersuchungen und Anwendungen gehen sie zur Schule, damit sie nicht zu viel Lernstoff verpassen.
Ausgerechnet die Sophie-Scholl-Schule, eine Schule für chronisch kranke Kinder, bekommt in diesem Jahr den Deutschen Schulpreis verliehen. Die begehrte Trophäe wurde ihnen am 9. Juni in Berlin von Bundeskanzlerin Angela Merkel überreicht. Unter 162 Schulen aus ganz Deutschland, die sich für den Preis beworben haben, wurde die Sophie-Scholl-Schule ausgewählt. Diese kleine Schule, die nur elf Lehrer hat und etwa 200 Schüler, ist dieses Jahr die beste Schule Deutschlands. Wie kann eine Schule, an der die Schüler in der Regel nur sechs bis acht Wochen unterrichtet werden, zum Vorbild für alle werden? Was kann ein Gymnasium in Hessen, eine Grundschule in Rheinland-Pfalz oder eine Realschule in Bayern von der Sophie-Scholl-Schule lernen?
„Alles", sagt der Erziehungswissenschaftler Professor Michael Schratz. Er ist Mitglied der Schulpreis-Jury und hat die Sophie-Scholl-Schule zusammen mit Kollegen zwei Tage lang inspiziert. Der Wissenschaftler stellt der Sophie-Scholl-Schule ein hervorragendes Zeugnis aus: „Sie ist in allen sechs Qualitätsbereichen exzellent. Ein Juwel in der Schullandschaft." Auf die Schule gehen Schüler von Klasse 1 bis 13, sie kommen von allen Schulformen und aus allen 16 Bundesländern mit unterschiedlichen Lehrplänen. „Die Lehrer der Sophie-Scholl-Schule zeigen: Es geht! Gemeinsamer Unterricht vom Hochbegabten bis zum Lernbehinderten. Sie haben nicht nur einen sehr hohen Bildungsanspruch, sondern sie vermitteln ihren Schülern auch Respekt, Demokratie und Verantwortung", sagt Michael Schratz. So wie beim „Sozialkompetenz-Parcours", den alle Schüler während ihres Aufenthalts einmal durchlaufen. Dafür werden alle Schüler von der vierten Klasse bis zum Abitur gemischt: Yussuf, Artur, Tobias, Till, Nico (Namen geändert), Franziska und Julia bilden ein Team, sie nennen sich die „coolen Schlümpfe". Gemeinsam lösen sie sieben Aufgaben: Von der Flussüberquerung bis zum Rollenspiel, bei dem sie überlegen: „Wie bitte ich einen Raucher, seine Zigarette auszumachen, weil er bei mir einen Asthmaanfall auslöst?"
Von außen sieht die Sophie-Scholl-Schule ganz gewöhnlich aus: ein hellgrau verputztes Gebäude mit hellgrünen Fenstern – wie der Rest der Klinikgebäude. Es riecht leicht nach Kräutern und Medizin. Und während der Pausen geht es zu wie in jeder normalen Schule: Die Kleinen toben über den Flur, die Großen stehen in Cliquen beim Schüler-Café, wo nur fair gehandelte Produkte wie Kaffee und Schokolade verkauft werden. Aber der Unterricht ist vollkommen anders: Es gibt keine Klingel, die Türen zu den Klassenzimmern stehen offen. Obwohl ständig Schüler rein- und rausgehen, weil sie zu Behandlungen müssen, herrscht eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre. Die Schüler lernen in jahrgangsübergreifenden Gruppen und entscheiden selbst, wann sie welche Aufgabe lösen. Dazu bekommt jeder einen „Wochenplan", der Aufgaben für jedes Fach vorsieht.
Donnerstags, wenn alle zwei Wochen neue Kinder anreisen, stehen ihre Schulranzen aufgereiht im Flur vor dem Lehrerzimmer im ersten Stock, bunte Scout-Ranzen mit Delphinen oder Astronauten von den Grundschülern neben Rucksäcken von den Schülern der Sekundarstufe I und II. Übers Wochenende nehmen die Klassenlehrer die Schulsachen mit nach Hause und erstellen auf der Basis der Schulbücher und Berichte für jeden Schüler einen individuellen Wochenplan. Der wird in eine grüne Mappe geheftet.
Emily geht in die Klasse von Andrea Rahm. Sie unterrichtet die Viert- und Fünftklässler. Sie haben Deutsch. Emily, 9, übt mit Yussuf, 11, Präpositionen. Auf dem Tisch steht ein Kasten mit buntem Holzspielzeug: ein Forsthaus, grüne Tannen, Pferde und Rehe. Emily zieht einen Satz aus einer Schachtel: „Zwei Pferde ziehen im Wald einen Wagen mit Stämmen", liest sie vor. Gemeinsam bauen sie die Szene nach, dann zieht Yussuf den nächsten Satz. „Ich finde es toll, dass man hier so viele Sachen mit den Händen machen kann. Dann behält man die Dinge viel besser", sagt Emily. Zu Hause in Bitburg werde meist nur mit Büchern gearbeitet, erzählt die blonde Grundschülerin im geringelten Pulli.
In der Leseecke, hinter einem Regal versteckt, liegt Till auf einer Matratze. Der Elfjährige liest völlig versunken in einem Was-ist-Was-Buch über die Römer. In den offenen Holzregalen stehen Ablagen mit Zetteln und bunte Kästen mit Lernmaterialien, die sich die Kinder nehmen können. Das meiste haben die Lehrer selbst entwickelt und hergestellt. So wie das „Dosendiktat", das Hauke gerade schreibt: Aus einer beklebten Kaffeedose fischt er sich Papierstreifen, auf denen Sätze stehen. Erst ordnet der Zehnjährige sie zu einem Text über das Leben von Sophie Scholl. Dann dreht er die Streifen um und schreibt den Text aus dem Kopf auf ein Blatt Papier. Am Ende kontrolliert er mit Hilfe eines Bogens, ob er Fehler gemacht hat. Emily aus Rheinland-Pfalz ist erst seit zwei Tagen an der Sophie-Scholl-Schule. Aber sie hat bereits verstanden, wie hier gelernt wird, ihre neue Freundin Aimee hat es ihr gezeigt. Emily sagt: „Zu Hause sagt die Lehrerin: ,Mach mal dies, mach mal das!‘. Hier lernt man viel mehr, weil man selber entscheiden kann, was man machen will."
Die Lehrer achten darauf, dass die Kinder für alle Fächer gleichmäßig arbeiten. Am Ende jeder Woche gibt es Feedback-Gespräche: Was läuft gut? Wo könnte der Schüler noch besser werden? Wie können ihn die Lehrer dabei unterstützen? Oft sind die Kinder im Stoff weiter, wenn sie nach der Kur zu Hause wieder in ihre alte Schule gehen. Eine Triangel erklingt. Tobias, 9, hat sie geschlagen, weil er mit einer Aufgabe nicht weiter weiß. Bevor er sich mit seinem Problem an die Lehrerin wendet, bittet er so einen Klassenkameraden um Hilfe. Auch die älteren Schüler helfen sich gegenseitig. Ein Stockwerk tiefer haben Franzi, 15, Artur, 17, und Matthias, 17, Englisch bei Lehrerin Susanne Pöhlmann. Die Realschülerin, der Gymnasiast und der Azubi sitzen gemeinsam an einem Tisch. „Artur", sagt Franzi, „check mal Satz drei. Ich kapier nicht, was da rein soll." Franzi schiebt Artur einen Zettel mit „If-Clauses" rüber. Artur unterbricht seine Arbeit, er liest einen englischen Text über China. Gemeinsam grübeln sie, welche Zeitform in die Satzlücke gehört.
„Die Schule ist total fortschrittlich. Wir arbeiten viel in Projekten", sagt Artur, der die zehnte Klasse eines Gymnasiums in Kaufbeuren besucht. „Durch das selbstständige Arbeiten kann ich mich viel besser einschätzen. An der Uni sagt mir später auch keiner, wann ich was tun muss." Der blonde Schüler im grünen V-Pulli will nach dem Abitur internationales Management studieren. Franziska kommt aus Würzburg und geht in die neunte Klasse einer Realschule. „Die Lehrer zu Hause boxen einfach den Stoff durch. Denen ist scheißegal, ob wir den kapieren oder nicht. Hier machen sich die Lehrer um jeden Schüler Gedanken", sagt sie. Vor den Lehrern der Sophie-Scholl-Schule haben beide großen Respekt. „Die Lehrer strengen sich hier richtig an", findet Artur. Franzi sagt: „Bei uns zu Hause rauchen einige Wasserpfeife im Unterricht, manche telefonieren auch. Aber die Lehrer checken nichts, die können sich nicht durchsetzen. Hier sind die Lehrer ganz anders." Denn die Lehrer der Sophie-Scholl-Schule haben ein völlig anderes Selbstverständnis als ihre Kollegen an den Regelschulen: Sie stehen nicht vorn an der Tafel und machen Frontalunterricht, sondern begleiten die Schüler beim Lernen. Gymnasial- und Grundschullehrer arbeiten gemeinsam mit Sonderpädagogen im Team.
Das war nicht immer so. Als sie vor rund zehn Jahren an die Schule kam, sei eine unsichtbare Trennlinie durchs Lehrerzimmer gelaufen, erinnert sich Andrea Rahm, die stellvertretende Schulleiterin. „An dem einen Tisch saßen die Fachlehrer vom Gymnasium, am anderen die Kuschelpädagogen, die Grundschullehrer und Sozialpädagogen." Sie kannten kaum den Vornamen voneinander, jeder arbeitete für sich. Sie teilten Matrizen aus und gaben Nachhilfe. Irgendwann begriffen sie: „Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir bei uns anfangen." Seitdem sitzen sie gemeinsam an einem großen Tisch, die Grundschulpädagogin hilft dem Gymnasialkollegen beim Laminieren von Lernmaterial, und sie arbeiten viel mehr als andere Lehrer.
Christian Schleicher, Lehrer für Französisch und Deutsch, verbringt 50 bis 60 Stunden pro Woche in der Schule. Und verdient weniger als seine Kollegen an den staatlichen Gymnasien, weil er nicht Beamter, sondern Angestellter ist. Trotzdem will er nicht weg. „Hier habe ich jeden Tag Erfolgserlebnisse", sagt der 41-Jährige im Fleeceshirt und Turnschuhen. Wenn ein Schüler zum Beispiel seine Anwendung in der Klinik vergisst, weil er so vertieft ist ins Lernen. Oder seine Schüler am letzten Tag freiwillig ein letztes Mal zu ihm in die Klasse kommen – mit Tränen in den Augen, weil sie wieder nach Hause müssen.
Immer wieder gibt es neue Herausforderungen für die Lehrer. So wie Peter. Der Elfjährige ist einer der wenigen Langzeitschüler an der Sophie-Scholl-Schule. Als Peter vor drei Jahren nach Oberjoch kam, sprach er kaum, und wenn, dann sagte er nur: „Peter ist dumm." Nach seiner Geburt musste er mehrfach am Herz operiert werden, ständig hatte Peter Lungenentzündung. Nach dem Körper wurde die Seele krank. Peter war depressiv, malte nur noch schwarze Bilder. In der normalen Grundschule kam Peter nicht zurecht, die Ärzte wussten nicht weiter. Dagmar Loesing hatte Angst, ihr Sohn könnte sterben. Die Sophie-Scholl-Schule war Peters Rettung. Nach drei Wochen in den Bergen breitete Peter die Arme aus und sagte: „Ich bin glücklich." Er lernte nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch, wie er auf andere Kinder zugeht. Denn Peter ist Autist. Seine Klassenlehrerin hat sich extra für ihn fortgebildet. Das ist typisch für die Schule. Bei jedem Kind wird nicht seine Krankheit, sondern sein Potenzial gesehen. Für jedes suchen die Lehrer eine maßgeschneiderte Lösung. Dadurch entwickeln sie ihre Schule ständig weiter.
Der Motor sind die beiden Schulleiterinnen Angela Dombrowski und Andrea Rahm, beide 44. Sie kennen sich seit dem gemeinsamen Studium in Würzburg. „Frau Dombrowski und Frau Rahm haben beide unheimlich viel Zivilcourage. Sie sind am Anfang täglich eine Stunde früher gekommen, haben überlegt, was bieten wir Peter?", sagt Dagmar Loesing. Die 38-Jährige strahlt Kraft und Optimismus aus. Im Sommer geht sie mit Peter zurück nach Ostfriesland, wo sie mit ihrem Mann einen Hof bewirtschaftet. Dort will sie eine Schule nach dem Vorbild der Sophie-Scholl-Schule gründen. „Denn es gibt immer mehr Kinder, die in der Regelschule nicht zurechtkommen, weil sie ADHS haben, auch Allergien nehmen zu. Die kann man doch nicht alle aussortieren", sagt Dagmar Loesing. „Diese Art zu lernen, wie an der Sophie-Scholl-Schule, lässt sich auch auf Regelschulen übertragen. Das stelle ich mir traumhaft vor."
Catrin Boldebuck