Porträt
„Diese Schule ist stolz auf jedes Kind, das sie behält und nicht darauf aus, Kinder zu verlieren.“ (Die Jury)
Warnung: An dieser Schule wird Lehrern einiges zugemutet. Das fängt schon beim Vorstellungsgespräch an. „Sie können Englisch und Geschichte – was können Sie sonst noch?“ ist eine Lieblingsfrage des Schulleiters an Bewerber.
An dieser Schule wird auch Kindern einiges zugemutet. Wer schlechte Noten schreibt, wird schon mal verdonnert, die Arbeit so oft nachzuschreiben, „bis aus der Fünf eine Zwei geworden ist.“ Oder gemeinsam mit älteren Schülern in den Sommerferien den Stoff nachzubüffeln – die Schule bleibt dafür vier Wochen lang geöffnet.
Der Direktor der Friedrich-Schiller-Schule im schwäbischen Marbach stellt Ansprüche an Lehrer, Schüler und Eltern. Letzteren gibt er schon mal auf, „daheim für bessere Stimmung zu sorgen und nicht dauernd zu fragen, wann der Fünfer weg ist.“
Günter Offermann, 57, ist ein Machertyp, der eher durch seine Schule fliegt als geht, nebenbei Papierschnipsel aufklaubt und vor Ideen nur so sprudelt. Ein Patriarch, so heißt es über ihn, aber einer, der zuhören kann – und nicht nur die eigenen Ideen gelten lässt. „Ich brauche ständig jemand um mich, den ich anlabern und nach seiner Meinung fragen kann,“ sagt Offermann. „Zum Beispiel, was haltet Ihr vom Laptop in Klasse fünf?“ Ein Schulleiter könne noch so viele Ideen haben, stellt er klar, „getragen werden sie von der Mannschaft.“ Manchen Zahn haben ihm die Kollegen gezogen. „Aber wenn etwas beschlossen war, haben sie mich nie im Stich gelassen.“
Wie man überzeugt, hat der Sohn eines Obsthändlers schon im Laden der Eltern gelernt, wo er auch mal Bananen verkaufte, „die schon ein bißle fleckig waren.“ Dass er seinen Kollegen weder überreife Früchte noch unreife Ideen andrehen konnte, war ihm schnell klar, als er vor 18 Jahren als Schulleiter antrat. Davor hatte er zehn Jahre lang unterrichtet und vier Jahre als Referent im Oberschulamt viele Kontakte geknüpft. Offermann versuchte es erst gar nicht auf autoritäre Art. „Ein Schulleiter in Baden-Württemberg kann nichts anweisen – er muss überzeugen.“
Das Werk scheint gelungen. Binnen fünfzehn Jahren hat sich die Schülerzahl auf fast 2000 Schüler verdoppelt, damit zählt die Schule in Marbach zu den größten Gymnasien in Deutschland. Allein Klassenstufe fünf besteht aus zehn Parallelklassen. Und Offermann will weiter expandieren. Die Partnerschaft mit einer Schule in China will er weiter ausbauen, Chinesisch als zweite Fremdsprache in Klasse sechs einführen. „Je früher, desto besser.“
Weltoffen sollen sie sein, die Schüler aus Marbach. „Wir haben viele Eltern, die für internationale Konzerne wie Bosch arbeiten.“ Er führte vor drei Jahren „internationale Klassen“ ein. Dort lernt Elftklässlerin Eva aus Marbach gemeinsam mit Liina aus Finnland und Mart aus Estland – alles auf Englisch. Die Gastschüler leben ein Jahr lang bei Marbacher Familien und sorgen für ein internationales Netzwerk, das von China bis Argentinien und von USA bis Estland reicht.
Einige Schüler wollen zusammen mit einem pensionierten Lehrer einen Griechisch-Kurs einführen? Der Schulchor hat eine Einladung nach Shanghai bekommen? „Super!“ Der Rektor hilft, dass das Projekt läuft und kümmert sich um die Finanzierung. Jeder Schüler „braucht zumindest eine Sache, von der er sagt, hier kriege ich Anerkennung – egal ob Spanisch, Chinesisch oder die Tüftler-AG. Dann gilt der Deal, den Rest nehm’ ich mit. So einfach muss man Schule konstruieren.“
Ähnlich einfach klingt auch eine anderer Satz von Günter Offermann, der zugleich die größte Herausforderung für ein Gymnasium darstellt: „Jeder kommt ans Ziel.“ Schüler „abzuschulen“, nur weil sie schwierig sind, gilt am Friedrich-Schiller-Gymnasium als verpönt. „Einer, der als struppig gilt, aber das Zeug hat zum lernen, um den kümmern wir uns selbst,“ stellt der Schulleiter klar. Jeder Lehrer ist für Erfolg oder Misserfolg seiner Schüler verantwortlich. „Abschieben, im Stich lassen, das geht hier nicht,“ stellt Englischlehrerin Andrea Saffert klar. Vergangenes Jahr empfahl die Schule siebzehn von insgesamt rund tausend Schülern der Unter- und Mittelstufe den Wechsel auf die Realschule, „weil sie insbesondere mit der zweiten Fremdsprache überfordert waren.“ Das sind wenige im Vergleich zu anderen Gymnasien, aber immer noch Siebzehn zuviel.
„Wenn ein Schüler absackt, versuchen wir herauszukriegen, woran es liegt“, sagt Offermann. „Liegt es an der Qualität des Unterrichts? Hat er Liebeskummer? Oder Probleme daheim? Das muss geklärt werden. Der Lehrer ist dafür da, dass er wieder gut wird.“ Der Lehrer? Nein, ein ganzes „Unterstützungssystem“.
Fünfte Stunde – auffällig still ist es auf den Fluren, obgleich hinter den Türen im Oberstufenflügel fast 400 Schüler arbeiten. Allenfalls Murmeln ist im „Tutoriat“, der Übungsstunde, erlaubt. Die Mathelehrer Andreas Dold und Falk Bittermann halten sich im Hintergrund. „Wir werden nur noch bei ganz schwierigen Fragen gebraucht“, sagt Andreas Dold. Die Hauptarbeit machen die Schüler. Stärkere helfen den Schwächeren. Nina aus der Dreizehnten erklärt Jessica die zweite Steigerung der Parallele. Jan hilft Sarah bei einer komplizierten Gleichung.
„Rollentausch“ nennt das Andreas Dold, und er dürfte zum Schwierigsten zählen, was man einem Gymnasiallehrer zumuten kann – Verantwortung abzugeben, den Schülern die Bühne zu überlassen. „Manchmal ist es besser, wenn ihnen etwas in ihrer eigenen Sprache erklärt wird,“ sagt Andreas Dold. „Einen Gleichaltrigen traut man sich eher zu fragen als den Lehrer“, bestätigt Jessica, 18.
Überheblichkeit gegenüber Schwächeren ist verpönt. Schulsprecher Constantin hilft in der Mittagspause Hauptschülern bei den Hausaufgaben. Gymnasiastin Hannah, 17, übt mit dem elfjährigen Miguel aus der Hauptschule Deutschaufsatz. Gymnasiasten, Realschüler und Hauptschüler planen einen gemeinsamen Ruder-Achter. „Wir wollen den Kindern zeigen, wie die Welt aussieht,“ erklärt der Direktor. Auch die, die nur einen Steinwurf entfernt liegt.
Ingrid Eißele