Porträt
Eine pappdicke Schicht Margarine schmiert sich die siebenjährige Priscilla auf eine Brötchenhälfte. Ihre Haare sind zu feinen Dreadlocks gezwirbelt, der pinkfarbene Nagellack ist schon etwas abgekaut. Sie greift nach dem Honigglas. Auf dem Tisch stehen außerdem Apfel- und Orangensaft, Müsli, Käse, Wurst und eine große Kanne Kakao. Warum sie jeden Morgen um halb acht zum Frühstücken in die Schule kommt, mag das aus Ghana stammende Mädchen nicht erzählen. Dafür springt der gleichaltrige Ariel ein: „Meine Mutter arbeitet früh, und mein Vater muss sich von der Nachtschicht erholen.“ Schichtarbeit, Überforderung der Eltern oder auch Geldnot: Es kann viele Gründe geben, das Frühstück ausfallen zu lassen. Doch anstatt über vermeintlich nachlässige Eltern zu klagen, sorgen Schulleiterin Maresi Lassek und ihre Kollegen lieber dafür, dass die Kinder vor der ersten Stunde erstmal etwas in den Magen bekommen.
Die Schule am Pfälzer Weg ist umstanden von weiß-grau gestrichenen Hochhäusern, mal zwölf, mal 16 Stockwerke hoch, sonst unterscheiden sie sich kaum. Der Bremer Stadtteil Tenever ist kein einfacher Ort: Die Wahlbeteiligung ist niedriger, Ausländeranteil, Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität sind höher als in vielen anderen Bezirken der Hansestadt. In der Schule spiegeln sich die kulturellen Unterschiede und sozialen Schwierigkeiten des Stadtteils wider: Rund 90 Prozent der 179 Kinder haben ausländische Wurzeln, ihre Eltern kommen aus Somalia, Marokko oder Pakistan, aus der Türkei, Polen oder Russland. Mindestens 60 Prozent ihrer Familien sind auf Transferleistungen wie Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld angewiesen.
Ein schwieriges Elternhaus und ein Standort an einem „sozialen Brennpunkt“ bedeuten in Deutschland für die Kinder in der Regel: schlechtere Chancen auf einen guten Schulabschluss, eine Ausbildung, einen vernünftig bezahlten Job. Die Schule am Pfälzer Weg hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Teufelskreis zu durchbrechen, den Startnachteil der Kinder, so weit es irgend geht, auszugleichen und ihnen eine Perspektive zu geben – mit Erfolg. Unermüdlich sammeln die Lehrer Spenden, schreiben Projektanträge und suchen Sponsoren, um Extras zu ermöglichen wie das Schulfrühstück und gesundes Obst für zwischendurch, aber auch für Materialien wie Zirkel oder Scheren, die viele Eltern ihren Kindern nicht bezahlen können. Auch haben sie dafür gesorgt, dass täglich Lesehelfer an die Schule kommen – dafür arbeiten sie eng mit der „Freiwilligenagentur“ zusammen, einer Bremer Ehrenamtlichenbörse.
Besonders am Herzen liegt Schulleiterin Lassek ein guter Kontakt zu den Eltern, weshalb sie vor sechs Jahren das Programm „KESch“ ins Leben rief. Das Kürzel steht für „Kinder, Eltern und Schule im Dialog“: Über die normalen Elternabende und Sprechtage hinaus treffen sich Lehrer und Eltern jeder Klasse einmal monatlich einen ganzen Nachmittag lang. Am Anfang lernen sich Eltern und Lehrer kennen, die Eltern zeigen sich gegenseitig ihre Heimatländer auf einer Weltkarte und erzählen einander, welche Spiele sie selbst früher gespielt haben. Später arbeiten sie gezielt an Themen wie „Ernährung“, „Konfliktlösung“ oder „Lernen“. Auch gemeinsame Ausflüge mit den Kindern stehen auf dem Programm wie Spielnachmittage, Konzert- oder Museumsbesuche.
„Dank der konsequenten Elternarbeit kommen Mütter und Väter viel regelmäßiger zu Elternabenden und engagieren sich auch außerhalb der Schule viel stärker für die Entwicklung ihrer Kinder“, erzählt Maresi Lassek, als sie durch den Klinkerbau führt, in dem 1993 der Betrieb aufgenommen wurde. Viel Tageslicht strömt in die breiten Flure und hell gestrichenen Klassenräume. „Wenn wir ihnen etwa erklären, wie wichtig Radfahren für die kindliche Entwicklung ist, sorgen fast alle für ein verkehrstüchtiges Fahrrad. Das ist in diesem Stadtteil überhaupt keine Selbstverständlichkeit.“
„Das Verhältnis zwischen Eltern und Lehrern wird durch das Programm partnerschaftlicher“, sagt die türkischstämmige Özen Cakir-Memoglu, die gerade für einen Termin mit der Schulleiterin zu Besuch ist. Auch untereinander geben sich die Eltern, die durch das Programm näher zusammenrücken, nützliche Tipps: „Meine Tochter ärgert sich schnell, wenn ihr etwas nicht sofort gelingt“, so die Mutter. Von anderen Eltern habe sie gelernt, dem Mädchen dann zu sagen: „Du bist doch in anderen Sachen gut, keiner muss alles können.“
Die dritte Stunde ist angebrochen. „Wochenplanunterricht Deutsch“ für die Gruppe der „Tigeraugen“, in der Dritt- und Viertklässler gemeinsam unterrichtet werden. Ihre Tische stehen locker im Raum verteilt, die großen Fenster sind mit Papierblumen verziert, unter der Decke hängen selbstgebastelte Tiermasken. In den Regalen finden sich Materialordner zu Themen wie „Brot“, „Wald“ oder „Strom“. Je nachdem, wo sie in ihrem Lernprozess stehen, lösen die Kinder unterschiedliche Aufgaben – natürlich in Absprache mit ihrer Lehrerin: Einige suchen Wörter im Kinderwörterbuch, andere füllen Lückentexte aus oder lösen Buchstabenrätsel.
Derweil beugt sich die neunjährige Vanessa über ihr Geschichtenheft und schreibt eine selbst ausgedachte Erzählung noch einmal in Reinschrift ab. „Es war einmal vor nicht allzu langer Zeit, da lebte ein Mädchen“, steht dort bereits. „Sie hatte einen süßen Hund.“ Auch Klassenkamerad Abdullah arbeitet an seiner Geschichte: Sie handelt von einem Jungen, der den seltsamen Namen „Hartwig“ trägt. Um nicht länger von den anderen gehänselt zu werden, will er lieber „Mohammed“ heißen. Am Ende aber findet er wieder zu seinem richtigen Namen zurück und wird von den anderen akzeptiert. Einander so annehmen, wie man ist, Unterschiede als selbstverständlich anerkennen: In der bunt gemischten Grundschule lernen das die Kinder ebenso wie ihre Schulfächer Mathe, Deutsch oder Musik. Nicht nur, weil sie aus so vielen verschiedenen Ländern kommen. Und nicht nur, weil in ihren Klassen – so wie im gesamten Bundesland Bremen – Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden. Mit jahrgangsübergreifendem Unterricht setzt die Schule am Pfälzer Weg noch einen obendrauf: Die Erstklässler lernen gemeinsam mit den Zweitklässlern, die Dritt- mit den Viertklässlern.
Beginnt ein neues Schuljahr, erklären die frischgebackenen Zweitklässler den Schulanfängern, wo die Jacken aufgehängt werden, wie man den Morgenkreis leitet und wie die Tafel gewischt werden soll. „Das funktioniert so gut, dass wir Lehrer dadurch tatsächlich weniger organisatorischen Aufwand haben. Dadurch können wir uns noch besser auf den eigentlichen Unterricht konzentrieren“, freut sich Maresi Lassek. „Durch ihre neue Rolle machen die Großen einen riesigen Entwicklungssprung.“ Die Sozialkompetenzen der Kinder fördern und auf die Lebenswelten der Kinder eingehen – auf den ersten Blick scheinen diese Pfeiler im Konzept der Schule gar nicht so viel mit Lernen und Leistung zu tun zu haben. Doch sorgen sie für eine Atmosphäre, in der die Kinder auch in Sachen Noten überdurchschnittlich gut abschneiden: 30 Prozent der Schüler schaffen in der 4. Klasse die Voraussetzungen fürs Gymnasium – deutlich mehr als in anderen Schulen in vergleichbaren Bremer Stadtteilen. Und damit eine Chance auf eine Zukunft jenseits der Hochhäuser von Tenever.