Individuelle Lernsettings und eigenverantwortliches Arbeiten an der Siebengebirgsschule Bonn

 

Selbstbestimmt, ohne klassischen Stundenplan und ohne feste Klassenräume lernen die Schüler:innen der Siebengebirgsschule in Bonn – eine Förderschule im Verbund der Förderschwerpunkte Lernen, Emotionale-soziale Entwicklung und Sprache. Hier entfalten die Lernenden ihr Potenzial und finden ihren Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe. Was Jurymitglied Carola Gnadt am Konzept überzeugte, erzählt sie im Interview.  

Frau Gnadt, mit welcher Erwartung haben Sie die Siebengebirgsschule in Bonn besucht?
Mit einer ganz großen. Ich hielt es für unvorstellbar, dass sich das in der Bewerbung beschriebene Konzept eines eigenverantwortlichen Lernens ohne klassischen Stundenplan und feste Raumstruktur so in die Praxis umsetzen lässt. Vor Ort kamen wir aus dem Staunen nicht mehr raus.

Was versetzte Sie in Staunen?  
2017 machte sich die Schule auf den Weg, um der gelernten Hilflosigkeit ihrer Schüler:innen eigenverantwortliches Lernen entgegenzusetzen. Es wurde eine neue Kultur geschaffen, die ausdrückt: Wir interessieren uns für euch, trauen euch etwas zu und geben euch Struktur und Unterstützung. Uns begegneten Schüler:innen, die anderswo als unbeschulbar galten, mit größtem Respekt. Trotz Gleitzeit waren viele Kinder schon 30 Minuten vor dem Unterrichtsbeginn da.

Die Schule setzt auf eine bedürfnisorientierte, radikal individuelle Förderung der Schüler:innen. Wie äußert sich das?
Morgens loggen sich die Schüler:innen im Lernatelier bei ihrer Lernbegleiter:in über die Schulsoftware EduPage ein. Im digitalen LernNavi finden sie ihren persönlichen Wochenarbeitsplan mit allen Materialien, die durch passgerechte Diagnostik zu ihren Bedürfnissen passen. So lernt etwa ein Matheüberflieger aus dem Autismus-Spektrum auf seinem Leistungsniveau. Je nach Graduierungsstufe entscheiden sie wo, was und wann sie lernen und Pause machen. Wer morgens mit Sorgen oder Aggressionen ankommt, kann im Kreativraum starten.

Was machen die Schüler:innen dort?
Dort gibt es einen 3D-Drucker und Materialien aus den Bereichen Modeling oder Robotik, mit denen sie selbstverantwortlich Dinge produzieren können. Diese kreative Auszeit entlastet die Schüler:innen emotional. 

Woran haben Sie eine hohe Unterrichtsqualität erkannt?
Das zeigte sich etwa im täglichen Lernsetting Block A, der die Hauptfächer umfasst. In Impuls- und Dialogphasen erlebten wir kognitive Aktivierung, die durch die hohe Eigenverantwortung noch verstärkt wird. Ein Schüler sagte: „Ich kann machen, worauf ich zuerst Lust habe. Montag bis Mittwoch mache ich meine Aufgaben, am Donnerstag will ich kochen.“ Digitale Lerntagebücher, Einzelcoachings und Entwicklungsgespräche geben zusätzlich Struktur.

Was ist an dieser Schule besonders innovativ?
Die konsequente Stärkenorientierung gepaart mit der pädagogischen Grundhaltung: Jede:r Einzelne ist wertvoll und wichtig. Das gilt auch für Lehrkräfte. Eine Seiteneinsteigerin, die zuvor in der Wirtschaft arbeitete und nun Mathe lehrt, sagte: „Ich habe mich noch nie in meinem Leben so gefreut, zur Arbeit zu gehen!“

Welche Begegnung blieb Ihnen in besonderer Erinnerung?
Ein Vater, der ursprünglich aus einem afrikanischen Land kommt, erzählte: „In der Grundschule wurde gesagt, mein Sohn werde nie richtig lernen können. Nun geht er hier zur Schule, will sogar zum Unterricht, wenn er krank ist und spricht besser Deutsch als ich.“ Das hat mich sehr berührt.

Ein Vorwurf gegenüber Förderschulen ist, dass Schüler:innen unter ihren Möglichkeiten bleiben und soziale Ausgrenzung begünstigt wird. Warum ist eine Förderschule Hauptpreisträger? 
An der Siebengebirgsschule haben Schüler:innen die Chance, ihre Talente zu entdecken und ihr Potenzial zu entfalten. Diese Schule leistet einen wesentlichen Beitrag, dass vermeintlich unbeschulbare Kinder ins Lernen zurückfinden, in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt werden. Gäbe es diese Schule nicht, hätten viele Kinder keinen Abschluss gemacht. Wenn Inklusion bedeutet, dass alle Kinder Teilhabe erleben und individuell gefördert werden, ist diese Förderschule ein wichtiges Puzzleteil von Inklusion.

Was können andere Schulen davon lernen?
Sie können lernen, Schüler:innen aufrichtig etwas zuzutrauen, sich an ihren Stärken zu orientieren sowie Anreizsysteme statt Strafen zu schaffen. Die Siebengebirgsschule ist ein exzellentes Vorbild für Förderschulen, aber auch für allgemeine Schulen – für passgenaue Diagnostik und Förderung, individuelle Lernbegleitung und den Einsatz digitaler Tools.

 

Zur Person
Dr. Carola Gnadt ist Leiterin des Referats für Lehrerbildung, Qualifizierung im Seiteneinstieg sowie Fortbildung von Führungskräften in Schulen und der unteren Schulaufsicht im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg in Potsdam.