Potenzialentfaltung und professionelles Qualitätsmanagement an der Grundschule am Dichterviertel

 

Die Schule in Mülheim an der Ruhr möchte für ihre rund 260 Schüler:innen die bestmöglichen Lernvoraussetzungen schaffen, sie adaptiv fördern und ihnen die Möglichkeit geben, selbst Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen. Jurymitglied Thomas Häcker erklärt im Interview, welche beeindruckende Unterrichtsentwicklung die Grundschule am Dichterviertel zurückgelegt hat.

Was macht die Grundschule am Dichterviertel zu einer besonderen Schule?

Die Grundschule befindet sich in sehr herausfordernder Lage. Bei den Vergleichsarbeiten 2013 hatten mehr als 90 Prozent der Schüler:innen nur die niedrigste Kompetenzstufe erreicht – eine ziemliche Katastrophe. Seitdem hat die Schule einen unglaublichen Entwicklungsschub gemacht. Das Kollegium hat es schrittweise durch viele Maßnahmen geschafft, dass sich die Kinder inzwischen nicht nur leicht über dem Landesschnitt bewegen, sondern die Schule auch zu einer Modellschule für Hochbegabung und Inklusion geworden ist.

Wie ist der Schule dieser Weg gelungen?

Sie macht das Lernen der Kinder zum Ausgangspunkt ihrer Schulentwicklungssteuerung. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Potenzialentfaltung aller Schüler:innen, welche die Schule durch adaptiven Unterricht, der die individuellen Voraussetzungen der Kinder berücksichtigt, fördert und stärkt. Das Kollegium hat im Laufe der letzten zehn Jahre das gesamte Curriculum in Deutsch und Mathematik in Kompetenzraster überführt. Weitere Fächer sind in Arbeit. Diese Kompetenzraster hat die Schule wiederum in Lernwege übersetzt und daraus individuelle Lernpläne für die Kinder entwickelt. Permanente Lernzielkontrollen ermöglichen dem Kollegium, genau zu sehen, was ein Kind bereits kann und ob es sich in einem Normtempo die Inhalte erarbeitet oder schneller oder langsamer ist. Denn durch jahrgangsübergreifenden Unterricht können die Schüler:innen in ihrem eigenen Tempo lernen.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?

Wir haben während unseres Schulbesuches einen Jungen kennengelernt, der zu diesem Zeitpunkt im ersten Jahrgang war. Mit seiner Lernentwicklung in Deutsch bewegte er sich im oberen Bereich der Norm. Doch in Mathematik ging er sozusagen senkrecht durch die Decke. Er beschäftigte sich mit Aufgaben, die Schüler:innen bearbeiten, die schon drei Jahre an der Schule sind. Dieser Schüler würde an einer Schule, in der alle im Gleichschritt laufen müssen, permanent ausgebremst werden. Hier aber kann er sein Potenzial entfalten. Gleichzeitig erhalten Kinder, die langsamer lernen, die notwendige Unterstützung und Förderung. Das ist ein Geheimnis dieser Schule: Sie hat eine differenzierte, konzeptionell untersetzte, in systemischer Entwicklung befindliche und lernförderliche Kultur entwickelt.

Welche Beobachtung im Unterricht hat Sie besonders fasziniert?

In allen Lerngruppen beginnt der Tag mit einem Morgenkreis, der durch eine Komplexitätssteigerung besticht, die die Kinder in den unterschiedlichen Altersstufen nie über- oder unterfordert. So starten sie zum Beispiel mit der Zahl des Tages, die zunächst mit Orff-Instrumenten sinnlich und haptisch untersucht wird. Dann steigen die Anforderungen langsam: Die Kinder bilden Quersummen und lösen schrittweise immer schwieriger werdende Rechenaufgaben. Ich konnte beobachten, wie aufmerksam die Schüler:innen aller Jahrgänge mitgemacht haben – Langeweile gab es nicht. Der Bogen wird dabei nie überspannt: Der Morgenkreis geht zum genau richtigen Zeitpunkt in die Pause und dann in individuelle Lernzeit über.

Die Grundschule am Dichterviertel nimmt nicht nur das Lernen der Kinder in den Blick, sondern stellt auch sicher, dass das Kollegium weiter lernt. Wie genau macht sie das?

Die Schule verfügt über vielfältige Maßnahmen einer systemischen Professionalisierung. So finden zum Beispiel jede Woche zweistündige Teamtreffen statt, in denen das Kollegium Unterrichtssequenzen gemeinsam detailliert vorbereitet. Die Lehrkräfte besprechen dabei auch, welche Herausforderungen auftreten und wie sie diesen am besten begegnen können. Dabei wird deutlich, dass die Kolleg:innen natürlich unterschiedliche Kompetenzen und Stärken haben, von denen die anderen wiederum profitieren. So haben wir zum Beispiel eine Lehrerin kennengelernt, die sprachwissenschaftlich topfit ist und sehr genau auf das Wording im Unterricht achtet. Sie schult ihre Kolleg:innen in einem angemessenen und wertschätzenden Sprachverhalten. So sprechen die Lehrkräfte etwa im Mathematikunterricht nicht davon, dass ein Kind den „falschen“ Rechenweg anwendet. Wir haben eine Unterrichtssequenz beobachtet, in der ein Kind seinen Weg zur Lösung vorgestellt hat. Es kam zu einem korrekten Ergebnis, aber die Herangehensweise war an zwei Stellen fehleranfällig. Am Ende bedankte sich die Lehrerin mit den Worten: „Vielen Dank, jetzt haben wir wieder einen ganz eigenen Weg kennenlernen dürfen.“ Ein anderer Kollege hat besonderes Know-how im IT-Bereich: Er hat die sogenannte Lernmatrix programmiert.

Was ist das?

Die Lernmatrix ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Schule ihr hohes Niveau der individuellen Unterstützung sichert und weiterentwickelt: ein digitales Tool, um auf die Ergebnisse der Lernzielkontrollen individuell und adaptiv zu reagieren. Mithilfe geschickter und immer tiefergehender Fragen können die Lehrkräfte herausfinden, ob beispielsweise ein bestimmtes Kind besondere Unterstützung benötigt oder die Unterrichtsführung angepasst werden muss. Die Fragen leiten die Lehrkräfte so, dass sie am Ende wissen, was sie brauchen und wen sie um Unterstützung fragen können. Diese permanente Reflexion und das ausgeklügelte, professionelle Qualitätsmanagement sind beeindruckend.

Was können andere Schulen von der Grundschule am Dichterviertel lernen?

Sie können sich von ihr inspirieren lassen, wie es gelingen kann, dass viele Ebenen anspruchsvollen Arbeitens ineinandergreifen. Die Grundschule vernetzt professionell Lern- und Entwicklungsorientierung mit einem hohen Maß an mehrperspektivischer fachlicher Reflexion, die alle Akteur:innen einbezieht. Für mich ist diese Schule ein Gesamtkunstwerk.

Zur Person

Prof. Dr. Thomas Häcker ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Schulpädagogik und empirischen Bildungsforschung an der Universität Rostock.